: Pierre Seels lange Jahre der Scham
Bis heute haben die schwulen Opfer der Nazizeit keine Wiedergutmachung erhalten. Ein Kongreß beschäftigt sich mit diesem Thema und hört sich Zeitzeugenberichte an ■ Aus Saarbrücken Jan Feddersen
Vorgestern betrat er auf dem Saarbrücker Hauptbahnhof zum erstenmal seit 1945 wieder deutschen Boden. Eigentlich hatte Pierre Seel sich geschworen, nie wieder jenes Land zu betreten, dessen nationalsozialistisches Regime ihn ins Konzentrationslager und dessen Schergen seinen Freund umbrachten. Der heute 73 Jahre alte Mann ist trotzdem nach Saarbrücken gekommen, um auf dem Kongreß „Wider das Vergessen – Die Verfolgung von Homosexuellen im Dritten Reich“ zu sprechen.
Jahrzehntelang hatte Pierre Seel seine Homosexualität versteckt. Bis 1982, als der katholische Bischof von Straßbourg meinte, „Homosexualität [sei - d. Red.] als Körperbehinderung zu betrachten“.
Als Seel schließlich vor einigen Jahren in Österreich am Grab Heinz Hegers stand, war für ihn klar, daß er auch in Deutschland Auskunft geben würde. Heger war der erste, der in einem Buch („Die Männer mit dem Rosa Winkel“) über seine Zeit als schwuler Mann in einem Konzentrationslager schrieb.
Seels Bericht wird Aufmerksamkeit wecken. Er begnügt sich in seinen Aufzeichnungen, die nun im Kölner Jackwerth-Verlag herausgegeben werden („Ich, Pierre Seel, deportiert und vergessen“), nicht mit allgemeinen Anklagen. Seine Erzählung ist brutal. „Ich war 17 Jahre alt, und mir war sehr wohl klar, daß ich ein Risiko auf mich nahm, wenn ich jenen Platz aufsuchte, der zwischen Gymnasium und Elternhaus lag“: So beginnen seine Erinnerungen. Jener Platz, das war in Mühlhausen ein Terrain, auf dem sich die Boheme, und auch schwule Männer trafen.
Seine Eltern, ließen ihm jede Freiheit. Da war er 17, und es war kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs. Nach einer Denunziation und einem Eintrag in eine Rosa Liste wird Seel in das Konzentrationslager Schirmeck bei Straßburg gebracht. Der Grund: Homosexualität. Sein Freund Jo war dort ebenfalls eingeliefert worden. „Eines Tages forderte man uns über die Lautsprecher auf, uns auf dem Exerzierplatz einzufinden. Dann tönte klassische Musik aus den Lautsprechern, während die SS- Männer Jo nackt auszogen. Danach stülpten sie ihm heftig einen Blecheimer über den Kopf. Sie hetzten die reißenden Wachhunde des Lagers, die deutschen Schäferhunde, auf ihn. Zuerst bissen sie ihn in den Unterleib und in die Schenkel, bevor sie ihn vor unseren Augen verschlangen. Starr und schwankend betete ich darum, daß Jo ganz schnell das Bewußtsein verlieren möge.“
Seel hat bis heute diese Hinrichtung nicht verziehen. Immerhin kam er ein halbes Jahr später wieder frei – mit der Auflage, nichts davon zu erzählen, daß er in einem KZ war. Als Elsässer wurde er schließlich an die Ostfront zwangsrekrutiert, ehe er im Winter 1944/45 desertieren kann. Er wird von der Roten Armee gefangengenommen. Nach seiner Entlassung glaubt er nun in Frankreich ein freies Leben wieder beginnen zukönnen. Doch die Zeiten hatten sich auch in seinem Heimatland geändert. Jean-Paul Sartre war es, der den Ton der französischen Nachkriegssittlichkeit formulierte: Schwule hätten am meisten mit den Nazis des Vichy-Regimes kollaboriert. Seel und viele andere hatten somit keine Chance mehr, Rehabilitation zu fordern, in seinem Fall die Anerkennung als Deportierter.
Um Ruhe zu haben, heiratet er, gründet eine Familie – seine Homosexualität kann er trotzdem nicht unterdrücken. Pierre Seel zieht sich von seiner Familie zurück. Erst 1982 traut er sich, ein zweites Coming-out zu probieren – mit Erfolg. Eine Rente als Deportierter bekommt er inzwischen, eine als homosexuelles Opfer des Nationalsozialismus jedoch nicht. Er lebt heute in Toulouse, wo er – als öffentliche Person – öfter schon geschmäht wurde: Man beschmierte seine Hauswand mit dem Wort „Jude“, sein Auto fand sich eines Morgens mit der Aufschrift „Schwule Sau“ verunziert, Jugendliche traten ihn zu Boden.
Seel will berichten. „Die Geschichte kann man nicht verstecken. Ich habe sie viel zu lange versteckt.“
Der Kongreß in Saarbrücken will daran arbeiten, eine „Magnus- Hirschfeld-Stiftung“ ins Leben zu rufen. Sie soll die Arbeit zur Erinnerung an die Zeit der Rosa Winkel fortsetzen. Magnus Hirschfeld, der Name diesese jüdischen Wissenschaftlers, wurde bewußt gewählt: Er hauptsächlich hat während der Weimarer Republik erfolgreiche Lobbyarbeit geleistet, daß der § 175 fast vom Reichstag getilgt wurde. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme konnte Hirschfeld nur knapp ins Ausland fliehen.
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