: Wir schreiben den 1. Oktober 2006
■ Ein taz-Redaktionsprotokoll aus der fernen Zukunft nebst einem Rückblick auf die graue Vergangenheit von Jürgen Alberts
An diesem Morgen war der Weserblick getrübt - kein Zeichen von ehrlicher Ermüdung, nur der klassische Hangover. Gestern wieder im Haus am Deich versackt, Rotweine aller Regionen vereinigt euch. Mithilfe von Sambal und frischem Chili in Limonensaft wurde die Redaktion denkfähig. Ohrensausen, Augenreiben.Erstes Thema: Tinnitus. Kommt das auf die Kulturseite oder ist das schon Wirtschaft? Kurze Debatte über die aktuelle Modekrankheit, die allerhöchste Kreise erfaßte, seitdem es keinen Politiker in Bremen mehr gab, der nicht ausgepfiffen wurde. Reihenweise fielen die Senatoren aus, nur in Bremerhaven gab es einen Überlebenden. (Die stark dezimierte Männerfraktion wollte lieber über Haarausfall sprechen, brachte jedoch den Antrag nicht auf die Tagesordnung.) Gelassen lehnten sich die RedakteurInnen zurück. Nach fünf Minuten war das Thema: Tinnitus abgehakt. Der Gastkommentar von Maria Franke ließ sich lange auf sich warten. Sie war auf Leitung XXL zugeschaltet und ließ sich über Hintergründe bei den Spezialdemokraten aus. Die Ist-Demokraten unter Führung von Karin Stieringer waren angeschlagen. Das Tape lief und leise sirrten die Computer. Mit Hilfe des Schreibprogramms „Well done - well written“ erschienen die ersten zweihundert Zeilen auf dem Bildschirm. Kaum abgesprochen, schon versendet. (Manche witzelten bereits über die allzu schnelle „Mund-Propaganda“, die zu schlimmen ideologischen Verschleißerscheinungen führen könnte.) Seitdem die taz vom geschriebenen zum gesendeten Artikel überging, konnte sich die reichdosierte Schar von Abonnenten (die Steigerungsrate von 177% nach dem letzten Jubiläum machte die taz zur hansestädtischen Nr. 1) in die Herstellung und Verbreitung der Nachrichten einschalten. Lieblingsquerulant Alpha BTX kam auf Leitung 08/15: Warum bringt Ihr nichts über den Niedergang des WESER-Reports? Die journalistische Dreckschleuder war heißgelaufen und hatte sich zu spät für den technischen Fortschritt entschieden. Dumm gelaufen. Müdes Abwinken, WESER-Report, soso, aha, ab dafür. Marita 1 meldete sich zu Wort und forderte eine Lohnerhöhung von 17%. (Nachdem die Gehälter bei der taz höher lagen als bei Buten&Binnen, hatte sich der Trend verkehrt, die RücckehrerInnen wurden jubelnd begrüßt.) Zweites Thema: Nahverkehr. Die Bremer Karte konnte vermelden, daß die Abnahme in Zukunft flächendeckend und zwangsverpflichtend wurde, damit werde das letzte Auto aus der Innenstadt verschwinden - nur auf dem O-Weg durften wenige Elektrokarren fahren. Wer macht das? Eva 7 sprach leise den Vorspann aufs Tape. Tenor: Die Stadt kommt mit sich ins Reine. Nach der sauberen Weser, Lachse und Kinder badeten im frischen Wasser, nun auch bald wieder saubere Luft. Dann schauten alle gebannt auf den Bildschirm, der im 3-D-Verfahren Wichtiges hervorhob und Unwichtiges in den Hintergrund spielte. Jeder Artikel bestand aus maximal 5 Hauptwörtern, so daß sich die AbonnentInnen sich entscheiden konnten, ob sie weiterlesen wollten. Das Finden dieser zentralen Schlag-Worte dauerte mit Hilfe des Programms „Catch as catch word“ nicht mehr als 30 Sekunden. Die dezimierte Männerregie machte einen weiteren Versuch in Sachen Sterilisation. Abgeschmettert. Drittes Thema: Stillen bis zur Rente. Barbara 2 holte sich ihren Artikel aus dem Jahre 96 auf den Bildschirm. Entgeistert schaute sie auf die Zeilen. Das soll ich geschrieben haben? Löschtaste, wusch und weg. Karin 3 ließ die Männerseite abstürzen. Keine richtigen Ideen, nur unbrauchbares Gewäsch. Der erwartete Protest blieb aus. Letztes Thema: Werder-Flötenstunde. Seitdem der SV Werder alle grün-weißen Ballspiele dominierte, griff Willi Lemke zum Blasinstrument und gründete den ersten FC Flöte. Zwei Stunden später war die Arbeit geschafft. Beifälliges Gemurmel, das nicht mehr gesendet wurde. Der Dialog mit den Leserinnen war gelungen. Der rote Zeiger auf der nach unten offenen Lamento-Skala schlug nicht aus. Die Kirchturmuhr spielte „I can't get no satisfaction“. Die Männerriege ging zum Fitness.
Jürgen Alberts
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