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Der schwangere Mann

■ Eine Hatz über die Frankfurter Buchmesse / Begegnungen mit Kohl, einem Killer, Kommissar Brook und Herrn Cott / Taugen Bücher nur noch als Handbücher?

Auch an freier Zeit mangelt es der Mehrheit des Lesepublikums nicht. Sagte Dr. Helmut Kohl anläßlich der Eröffnung der Buchmesse in Frankfurt mit Blick auf die Arbeitslosen. Mit Blick auf die 75.600 Neuerscheinungen und sich selbst sagte er: Totgesagte leben länger. Mit Kohl über die Buchmesse, seine Rede in der Hand als Schmierpapier: Wir dürfen optimistisch sein! (Kohl).

„Hey Killer!“ Wie oft hat er nun auf der Buchmesse diesen teils bewundernden, teils kumpelhaften, teils durch die Zähne gezischten Gruß schon gehört. Man spricht natürlich in Frankfurt überhaupt nicht über den Schwerpunkt Irland, schon weil im irischen Pavillon das Guinness DM 7,50 (0,3 Liter) kostet. Sondern über den geduckten Hessischer Rundfunk-Angestellten Corino, der den DDR-Leuchtstern Stephan Hermlin in den Dreck gezogen hat. Jetzt steht der Hermlin da als KZ-Haft-Erschleicher und der Corino als Killer.

Stephan Hermlin in den Dreck gezogen

Und heute steht im „Spiegel“, wer recht hat, denn die haben alle KZs abgeklappert.

Übernehmen Sie, Kommissar Brook! möchte man ausrufen (und wegen dieser Brücke vom Weltskandal nach Bremen möge man mich loben); ist das nicht Lou A.? Unser taz-Bremen Sommerkrimischreiber Probsthayn? „Heute am Stand“ von Achilla Presse (Hamburg und Bremen), zeigt er sein Scarface, sein erfahrungsgesättigter Bariton massiert einem das Knochenmark. Lou A. macht mit links die Promo für seinen Verlag und deutet auf Bridget O'Connor bzw. ihr Buch „Jetzt kommt John“. IRISH! Geht so los: Sie sagte, als sie es wieder konnte: „Wie lange habe ich noch?“ Die Zahnarzthelferin drehte sich angeekelt weg. Und so weiter, ohn' Unterlaß, atemlos.

Ja, die Iren, im Rampenlicht der Messe. Werden sich ohn' Unterlaß fragen: Wo liegt Bremen? Welche Radtouren könnte man da unternehmen? Doch das ganz neue ADFC-Regionalkarten-Programm, einzusehen am Stand der Bielefelder Verlagsanstalt, läßt die Iren im sprichwörtlichen Regen stehen und spart Bremen vorerst aus. Aber: Oldenburg und umzu. Was zum Teufel hat Oldenburg??? Na? Naaa??? Richtig, den Lappan-Verlag, der reich und berühmt wurde mit guten oder unterhaltsamen oder beides Witzezeichnern, nicht zuletzt Til Mette, den man leider vergeblich am Lappan-Stand sucht, weil letzte Nacht die traditionell folgenschwere „Titanic“-Party war. Leider verkauft sich Comic nicht mehr gut, drum tuschelt man bei Lappan davon, ab nächstem Herbst lieber mehr Witzeschreiber zu verlegen, junge unentdeckte Satiriker. Geld macht man derweil mit doofen Horoskopbändchen. Neu und einen wie mich ansprechend: ein Fotoroman vom Bremer Fotografen Navigo und dem Schweizer Pantomimen Olli Hauenstein (Titel: Das Kind im Manne); darin ein Mann immer dicker wird im Sinne von schwanger, o ja.

Der tristeste Stand in der Bell-e-tristik gehört alljährlich der taz (der Bundestaz, versteht sich!). Billig, schülerzeitungsmäßig, erbarmungswürdig. Immer wie kurz vor der nächsten Rettungsaktion. Nur mal so zum Beispiel: Was kriegt der taz-Reporter von der taz für seinen Sohn als Mitbringsel? Einen Button „Es gibt Wichtigeres“. Es gibt eben überhaupt nix Wichtigeres!

Erbarmungswürdiger taz-Stand

Wo ist eigentlich Manholt? Heuer fängt jedes Gespräch mit „Haste gehört, der Hermlin, ein Lügner“ oder „Wo ist eigentlich“ an, weil die ganze Belletristik durcheinandergeraten und vergrößert worden ist. Manholt liegt neuerdings gleich hinter Dr. Oetker links, da wo die Suppentassen klappern. Der Bremer Verleger Hemjeoltmanns, den wir jetzt einfach einmal der Einfachheit halber Herrn Manholt nennen wollen, verlegt gerade seinen sechsten und letzten Perec (wir erinnern uns oder auch nicht: „Was für ein kleines Moped mit verchromter Lenkstange steht dort im Hof“ und lauter so Zeugs für Logophile). Neu also: „In einem Netz gekreuzter Linien“ mit einem Kapitel über die Physiologie des Lesens und einer Untersuchung über Brillen. Merkt euch: Perec lesen ist besser als Cola light und safer Sex zusammen!

Apropos Sex: Kann ich an deine Brust? fragt „Redbull“ in einer dieser vorzeigeblöden Chatboxes. Natürlich im soundsovielten Internet-Café auf der Buchmesse, wo die Kids hocken, die sich mit dem Presseausweis von ihrem Alten, der bei der FAZ arbeitet, in die Buchmesse geschlichen haben.

Statt lesen: Internet-User-Outing

Damenklo, Damenklo, ja das macht die Nele froh dichtet soeben „Alien“, aber lustig ist, daß die FAZ-Kids einen Ober-Chat-Wichser enttarnt haben, der sitzt nämlich auch im I-Café drei Bildschirme weiter. Jetzt machen sie Witze über sein Aussehen, und der Typ ist echt fertig. Nebenan sitzt übrigens ein Iraner, der sich soeben in den USA einen gebrauchten Optikerapparat bestellt (was ja auch zum Thema paßt).

Was – seufz – auch zum Thema paßt, sind die Neuen Medien, wo gilt: Bücher braucht man nur noch als Handbücher. Zum Glück laufen sich innerhalb dieses Themenkreises FR-Mitarbeiter wie ein gewisser Thomas Wolff die Hacken ab, den Namen wollen wir uns merken. Und jetzt gehen wir noch mal bei Temmen vorbei. Der Fachverlag für Reiseliteratur in Mecklenburg und umzu (neu: Usedom & Wollin, Hohe Tatra, Hafenhandbuch Rostock, Schwerin – ein Porträt, Mecklenburgische Schweiz) wollte eigentlich einen Neuling zeigen: „Beschädigte Seelen – Jugendliche in den Fängen der Stasi“. Über „das Problem der Inbeschlagnahme von Kindern und Jugendlichen durch das MfS“. Mit CD, darin O-Ton Schulungsunterlagen. Leider nicht fertig geworden, das Buch. Übrigens meckert Herr Brauer, der das Rostocker Ostbüro von Temmen leitet, ungeniert über dieses Buch, weil er die DDR ganz anders in Erinnerung hat. Sach ich ja immer: Mehr mit Zonis reden!

Jetzt noch was Schönes. Ein netter Mann namens Georg Oswald Cott verteilt Gedichte, Preis: 1 Lächeln. Ich halte die Miene steif und versuche zu betrügen, aber Herr Cott fällt nicht rein und kuckt mich so lange an, bis ich ein schiefes Gesicht kriege. Und hier das teuer erkaufte Gedicht:

Was in der Nähe geschieht

zwei schnäbelnde Spatzen/

und einer/

der Mut schöpft/

vom bloßen Zuschaun.

Burkhard Straßmann

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