: Brüchige Idyllen
■ Als der Dokumentarfilm zum Beweismittel wurde: Die Retrospektive der Stuttgarter Schule im Zeughaus-Kino
Die Deutschen lieben das Kino nicht – wahrscheinlich, weil der Film uns einen Blick in die Vergangenheit erlaubt, an die wir nicht gerne erinnert werden. Im Vergleich zu den USA, aber auch zu den meisten anderen Ländern Westeuropas läßt die Pflege des Films hierzulande stark zu wünschen übrig. Besonders der Dokumentarfilm, der in Westdeutschland fast ausschließlich im Auftrag des öffentlich-rechtlichen Fernsehens entstand, verschwand nach einmaliger Ausstrahlung oft auf Nimmerwiedersehen in den Archiven der Fernsehanstalten.
Da ist eine Videokassetten- Sammlung wie „Zeichen der Zeit“ ein besonderer Glücksfall. Die Filmedition, die vom Stuttgarter Haus des Dokumentarfilms herausgegeben wurde, zeichnet die Entwicklung der „Stuttgarter Schule“ nach. Die „Stuttgarter Schule“ machte nach dem Zweiten Weltkrieg die ersten westdeutschen Dokumentarfilme von Belang. Gleichzeitig sind die Filme der Stuttgarter heute auch ein sehenswertes Porträt der Bundesrepublik von der Ära Adenauer bis zur Studentenrevolte.
Anläßlich der Videoedition „Zeichen der Zeit“ werden jetzt einige der Filme aus dieser Zeit wiederaufgeführt. Gestern abend begann im Zeughaus-Kino die erste „Stuttgarter Schule“-Retrospektive, die in den nächsten drei Wochen an 22 Terminen einen umfassenden Überblick über die Dokumentationen gibt, die zwischen 1957 und 1972 im Auftrag des Süddeutschen Rundfunks entstanden. An diesem Wochenende werden die Regisseure Dieter Ertel und Wilhelm Bittdorf und der Medienwissenschaftler Kay Hoffman vom Haus des Dokumentarfilms im Zeughaus-Kino sein, um mit dem Publikum über die Filme zu sprechen.
„Zeichen der Zeit“ hieß die Serie, die in diesen Jahren in Stuttgart produziert wurde, erst von Martin Walser, dann von Heinz Huber, von 1968 bis 1973 von Dieter Ertel, der schließlich entnervt von Sender-internen Streitereien um die Dokumentationen zum NDR wechselte. Damit war die große Zeit des Dokumentarfilms beim SDR vorbei. Die Arbeiten von Autoren wie Roman Brodmann, Elmar Hügler, Peter Nestler oder Heinz Huber mit ihren markigen Kommentaren wirken zwar heute manchmal zugetextet und erinnern an den Stil der „Wochenschau“. Doch von Anfang an haben sich die Regisseure der Stuttgarter Schule bemüht, ihre Geschichten mit Bildern zu erzählen – und nicht, wie im westdeutschen Fernsehen damals noch üblich, als bebilderte Radiobeiträge.
Das deutsche Pendant zum Cinéma Vérité
Besonders die Filme von Elmar Hügler wie „Eine Geburt“, „Eine Hochzeit“ oder „Wegnahme eines Kindes“, die um 1970 in der Reihe „Notizen vom Nachbarn“ gesendet wurden, zeigen vollkommen kommentarlos westdeutsches Alltagsleben. Sie sind das deutsche Pendant zu den Filmen des Direct Cinema und des Cinéma Vérité. Zu dieser Zeit begannen in den USA Dokumentaristen wie Richard Leacock, Don Pennebaker und die Gebrüder Maysles mit neuen, leichten 16-Millimeter-Filmkameras zu drehen; auch in Frankreich gingen Jean Rouch und Chris Marker mit ihren Kameras und tragbaren Tonbandgeräten auf die Straße und interviewten Passanten.
Diese Direktheit war mit den schweren Kameras der 50er Jahre nicht möglich gewesen. Erst in den 60er Jahren erlaubten es die kleinen 16-Millimeter-Kameras, näher an das Geschehen heranzugehen. Die berühmt gewordenen Aufnahmen in Roman Brodmans „Der Polizeistaatsbesuch“, die zeigen, wie beim Schahbesuch in West- Berlin 1967 persische Geheimdienstleute mit Holzlatten in die Menge der Demonstranten dreschen, wären mit den herkömmlichen 35-Millimeter-Kameras gar nicht möglich gewesen.
„Der Polizeistaatsbesuch“ ist wohl der berühmteste Film der Stuttgarter Schule. Brodmann, der eigentlich nur eine ironische Reportage über einen typischen Staatsbesuch drehen wollte, geriet in Berlin eher durch Zufall in den ersten Höhepunkt der deutschen Studentenbewegung. Sein Kameramann Michael Busse filmte vor der Deutschen Oper den erschossenen Benno Ohnesorg. Die Aufnahmen des Tonmeisters Rainer Bosch, der den tödlichen Schuß auf den Germanistikstudenten aufzeichnete, wurden sogar später vor Gericht als Beweis verwendet.
Doch eigentlich sind es eher unspektakuläre Themen, aus denen die Autoren der Stuttgarter Schule die interessantesten Filme gemacht haben. Der Titel des halbstündigen Films „Schützenfest in Bahnhofsnähe“ klingt zum Beispiel alles andere als aufregend. Dieter Ertel und Georg Friedel aber gehen der scheinbaren, ländlichen Idylle auf den Grund, und plötzlich erscheint das dörfliche Fest als ein Spiegelbild der finstersten Aspekte der westdeutschen Nachkriegszeit. Tilman Baumgärtel
Heute, 18.15 Uhr: „Ein Großkampftag“ (1957), „Beobachtungen bei einem Vegetarierkongreß“ (1959), „Der Aufstand der Jecken“ (1960); 20.30 Uhr: „Schützenfest in Bahnhofsnähe. Beobachtungen auf dem Dorfe“ (1961), „Burschenherrlichkeit“ (1962), Zeughaus-Kino, Unter den Linden. Weitere Infos: 215020
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