■ Mit Globalisierung und umfassender Marktwirtschaft steht die soziale Frage wieder an. Auch für die Grünen
: Über Kommunismus reden!

Daß trotz aller Fehler der Regierung Kohl keine Stimmung für einen Wechsel aufkommen will, liegt vor allem an der Opposition. Die nach 1989 auch von den Grünen gepflogene Rhetorik der Sachzwänge hat sogar jenen Menschen, die unter der gegenwärtigen Politik leiden, Courage, Widerstandswillen und Phantasie ausgetrieben.

Daß heute eine kaum noch zu umgehende theoretische Radikalität fehlt, hat sehr viel mit jenem ominösen Jahr 1989 zu tun. 1989 steht für den gescheiterten Versuch, die Idee des Sozialismus gewaltsam und zentralverwaltungswirtschaftlich durchzusetzen. Die Millionen Toten des Gulag zeugen davon ebenso wie der poststalinistische Despotismus des zwanghaften Volksheims DDR. Für die Grünen in ihrer Blindheit gegenüber der Vereinigungsproblematik bedeutete 1989 nicht nur das Ende ihrer gerade eben errungenen parlamentarischen Präsenz im deutschen Bundestag, sondern bald darauf – in der Verschmelzung mit Bündnis 90 – die Übernahme einer antitotalitären, bürgerschaftlichen Haltung, die im Widerstand gegen die poststalinistischen Regimes Ost- und Mitteleuropas angemessen war. Zu jenen Problemen, denen sich Bundesrepublik, EU und Welt im Zeitalter des vollendeten Weltmarkts konfrontiert sehen – mit Ausnahme des kategorischen Einklagens und Durchsetzens der Menschenrechte –, hat diese Haltung indes nichts zu sagen.

1994 kehrten die Bündnisgrünen in den deutschen Bundestag zurück. Heute erweisen sie sich als eine noch linksliberal-ökologische Partei, die der vom globalisierten Kapitalismus angestoßenen sozialen Krise politisch mit Appellen an Gemein- und Bürgersinn und ökonomisch immer stärker mit einem Einschwenken auf Mittelstands- und Austeritätspolitik begegnet.

1989 – so sagt man uns – habe das Ende des Sozialismus bedeutet. Der Weg unserer Läuterung in die gegenwärtige Realität hinein läßt sich durch wenig besser illustrieren, als daß ausgerechnet die Reste der Neuen Linken und sozialen Bewegungen die letzten Liebhaber des rheinischen Kapitalismus geworden sind. Aber auch mit dieser späten Liebe verhält es sich nicht anders als mit der melancholischen Zuneigung zur alten Bundesrepublik, zu Konrad Adenauers Weststaat. Kurz nachdem die Zuneigung am stärksten war, blich das Objekt der Begierde dahin.

Könnte es also nicht sein, daß in dieser Situation – die durch eine Zunahme der Armut in der Welt, die das Elend der 60er Jahre bei weitem überschreitet, durch wieder aufflammende Klassenkämpfe und eine Rücknahme des Sozialstaats als der höchsten Form kapitalistischer Vergesellschaftung gekennzeichnet ist – die Theorien der Civil society und des Kommunitarismus nicht die richtige Antwort sind? Daß wir heute also weniger über Kommunitarismus denn allen Ernstes über Kommunismus nachzudenken hätten?

Viele wünschen sich angesichts der Krise des angeblich nicht mehr bezahlbaren Sozialstaats eine Rückgewinnung gesellschaftlicher Solidaritätspotentiale. Von den vielen Illusionen, denen auch und gerade die hartgesottensten Realpolitiker unterliegen, dürfte diese eine der gefährlichsten sein. Denn solange die ökonomische und politische Verfügungsgewalt über das große Eigentum in Privatbesitz bleibt, kann die gesellschaftliche Solidarität – in dem Umfang, der hierzulande erreicht ist – nur staatlich-rechtlich organisiert sein. Solidarität und Eigentum sind im Guten wie im Schlechten aufeinander bezogen: Die Entstaatlichung der Solidarität wird nur möglich sein, wenn das große Eigentum, das offensichtlich unser aller Schicksal mitprägt, demokratisch vergesellschaftet wird.

Heute wieder über Kommunismus reden heißt: über die demokratische Vergesellschaftung von Produktion und Markt, darüber, den Demokratisierungsgedanken der Civil society auch auf die Wirtschaftssphäre auszudehnen.

Ist das nicht von einer geradezu unbelehrbaren, gefährlichen Torheit? Hat nicht der große Basler Historiker Jacob Burckhardt zu Recht die Frage gestellt, was aus der Geschichte zu lernen sei: klug zu werden für das nächste Mal oder weise zu werden für immer? Dieser Frage müssen wir uns stellen. Freilich: Was früher einmal als „das Kapital“ bezeichnet wurde, hätte die Frage, so dieses systemische Geschehen denn sprechen könnte, für sich längst beantwortet. Ungeachtet der Katastrophen dieses Jahrhunderts, die, wenn schon nicht nur, so doch gewiß auch durch es verursacht worden sind, ist es nicht klug für das nächste Mal geworden. Es folgt, uneinsichtig und eindimensional, jenem Imperativ, der ja seine unbestreitbare Rationalität ausmacht: zu niedrigstem Einsatz zu produzieren bei Externalisierung von möglichst vielen ökologischen, sozialen und finanziellen Kosten auf die Gesellschaften, die es tragen.

Heute geht es nur darum: nicht etwa, die Systemfrage zu beantworten – dazu sind wir noch nicht in der Lage –, aber doch mindestens darum, sie wieder offen zu stellen. Denn ohne den Blick über die Grenzen dieses Wirtschaftssystems hinaus wird es noch nicht einmal möglich sein, die Grenzen der gegenwärtigen Tagespolitik zu überschreiten. Vielleicht eröffnen sich dann Perspektiven, die mehr zeigen als den faden Mix von Debatten über Spitzensteuersätze, Sparappelle, Privatisierungsmaßnahmen und Umwandlung öffentlicher Verwaltungen in Profitcenter und den Appell an das Gute im Menschen, das heute Gemeinsinn heißt.

Kommunismus könnte heißen: Mehr und mehr Lebensbereiche dem Marktmechanismus zu entziehen. Warum erfindet man also nicht – anstatt der steuerlichen Entlastung des Mittelstands und der gewiß löblichen Reform des Stiftungsrechts nachzusinnen – neue Genossenschaftsmodelle als eigene Rechtsform und bevorteilt sie entsprechend? Warum kein finanzieller Lastenausgleich von Reich zu Arm? Warum keine Kapitaltransfersteuer? Warum nicht anerkennen, daß es der gestiegenen Produktivität der Maschinen wegen einen Zuwachses an Arbeitsplätzen nur noch im Bereich personenbezogener Dienstleistungen geben kann?

Die Antwort kann hier und heute nur lauten: Weil es in diesem Rahmen nicht geht – es rechnet sich nicht, nicht in Mark und nicht in Wählerstimmen. In eben dieser erwartbarsten und zugleich phantasielosesten aller möglichen Reaktionen liegt das Problem der grünen Partei. Die Realität, die wir verändern wollten, hat uns assimiliert; anstatt sie zur Kenntnis zu nehmen, sind wir ein Teil von ihr und damit um eine Hoffnung ärmer geworden. Micha Brumlik