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Kreuzzügler aus Trauer

Allenthalben in Europa regen sich Bürgerbewegungen für die moralische Erneuerung, für den Schutz vor Gewalt und gegen eine „Pornokratie“ – Ein Sieg des Kommunitarismus auf ganzer Linie?  ■ Von Mariam Niroumand

Aufgescheucht berichtet die britische Presse dieser Tage auf ihren Titelseiten über ein neuen Typus von Volksbewegung. „The moral backlash“ nennt der Independent seinen Aufmacher; der Guardian spricht von „Kreuzzügen“. Im Gegensatz zu den sogenannten „Ein-Punkt-Bewegungen“ der späten siebziger und achtziger Jahre, deren Protagonisten meist Jugendliche waren, handelt es sich – nicht nur in England, sondern auch in Belgien, Italien oder Deutschland – hier um vorwiegend mittelständische Bürgerinitiativen mit weitaus größerer Agenda.

Frances Lawrence zum Beispiel, die Witwe eines in London ermordeten Schulleiters, hat diese Woche Tausende hinter sich gebracht mit ihrer Kampagne „Manifesto for the nation“. Der Mörder ihres Mannes wurde vor einigen Tagen zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Die Kampagne hat sie jetzt gestartet, weil sie hofft, daß die Queen sie heute in ihrer Rede erwähnen wird, in der sie zu einigen neuen Gesetzesvorhaben Stellung nehmen will. Lawrences Ziel: nichts geringeres als die moralische Erneuerung Englands. Sie spricht von den drei „e“: „effort, earnestness and excellence“ – also in etwa „Leistung, Ernsthaftigkeit und Selbstüberbietung“, und fordert, wie schon ihr Mann, ein neues Schulfach, das „good citizenship“ heißt und in dem Kinder lernen sollen, was es bedeutet, ein solidarischer Staatsbürger zu sein – eine Forderung, die an Hillary Clintons von den Kommunitaristen übernommene Idee von einem Schulfach „Charakterbildung“ erinnert.

Überhaupt sollen Lehrer und Polizisten größere Kompetenzen erhalten. Die Regierung soll sich in bezug auf die Familie nicht länger „neutral“ verhalten; Eltern sollen daran gehindert werden, „von ihren Kindern getrennt zu leben“. Außerdem sollen Messer verboten werden, jedenfalls solche, die sie „Schlachtfeld-Klingen“ nennt. Ansonsten muß sich, so Mrs. Lawrence, ihre Bewegung gerade dadurch auszeichnen, daß sie „keine Maßnahmenkataloge, Petitionen oder Aktionspläne“ vorlegt. Es geht ihr vielmehr um eine Bewegung, eine Debatte, die dazu führt, daß „Gewalt gebannt, die Gesellschaft geheilt und das moralische Klima verbessert wird“.

Mit einer gewissen Verblüffung konstatiert der Independent, daß Politiker aller Couleur sich beeilten, Mrs. Lawrence zur Hilfe zu kommen. Nur wenige Stunden nach der Enthüllung ihres Manifests hatte der Labour-Vorsitzende Tony Blair – kommunitaristischen Ideen mit christlichen Vorzeichen ohnehin aufgeschlossen – Zustimmung gefunkt. Ihre Ideen seien „sehr aufregend“, „sehr wertvoll“. Die Tories hatten sie bereits zu ihrem Parteitag eingeladen; ihre Vorstellungen sollen in das nächste Grundsatzprogramm aufgenommen werden, versprach John Major.

Mrs. Lawrences Kampagne ist die zweite ihrer Art in diesem Jahr, mit der – meist weibliche – Angehörige von Gewaltopfern versuchen, die organisierte Politik unter Druck zu setzen. Jayne Zito, deren Ehemann von einem Schizophrenen ermordet worden war, hatte 700.000 Unterschriften organisiert, mit denen das Parlament gezwungen werden sollte, seine Waffengesetzgebung zu verschärfen – wie es scheint, mit Aussicht auf Erfolg. Schnell hatten sich Kirchenvertreter angeschlossen. Der Erzbischof von Canterbury sprach sich bewegt gegen die „Privatisierung der Moral“ aus und konstatierte, ein gemeinsamer Sinn für Richtig und Falsch sei verloren gegangen. „Ich habe ernsthafte Zweifel, ob es uns gelingt, irgend etwas zu tun, außer Warnsignale von uns zu geben.“

Der schottische Staatssekretär stieß ins selbe Horn und forderte eine schärfere Kontrolle der Videokultur: „Was erwarten wir, wenn Nacht für Nacht in den Wohnungen und in den Kinos sinnlose Gewalt verherrlicht wird?“ An seiner Seite kämpft Mary Whitehouse, die 1965 den Verband der Zuschauer und Hörer gründete, der in den letzten Wochen erheblichen Zulauf erfuhr und gegen Pornographie, Gewalt und Obszönität in den Medien eintritt.

Der Autor Jack O'Sullivan erinnert an die Sittsamkeitskampagnen der zwanziger Jahre gegen Alkoholismus und sexuelle Ausschweifungen, aber auch an die nordirische Friedensbewegung, die ebenfalls von zwei Witwen gestartet worden war – und bezweifelt die Erfolgschancen der „Kreuzzügler aus Trauer und Gram“. „Je umfangreicher ihr Programm, desto schneller werden sie vergessen.“ Die Autorin Louise Jury wendet ein: „Es ist ein ewiges Problem dieser Kampagnen, daß sie immer aus der Mittelschicht kommen, daß sie ihre größten Wirkungen in den reichen Vorstädten haben, wo es die Probleme, auf die sie sich beziehen, gar nicht gibt.“

Die Demonstration in Brüssel, ein Trauermarsch zur Erinnerung an die vier ermordeten Mädchen, an dem vergangenen Sonntag 325.000 Menschen teilgenommen hatten, war zwar kaum auf die Mittelklassen beschränkt, verzichtete aber auch im wesentlichen auf konkrete politische Forderungen. Statt dessen trugen die Demonstranten weiße Kleider, Hüte oder Blumen, und ließen Tausende weiße Luftballons aufsteigen. Die Farbe der Unschuld gegen das, was die Beteiligten „Pornokratie“ nennen: der vermutete Filz aus Justiz, Polizei, Politik und internationalen Ringen von Mädchenhändlern, für den es noch keine Beweise gibt.

Vage wird an den französischen Marschall Gilles de Rais erinnert, der vor 1440 Hunderte von Knaben mißbraucht, ermordet und verbrannt hatte. Premierminister Dehaene hatte zwar versucht, das Ganze als „Ermunterung für den Staats- und Gerichtsapparat“ zu werten, „die Probleme nun endlich anzupacken“. Aber so war es – wie die Empörung über die Absetzung des Untersuchungsrichters Jean- Marie Conerotte zeigt – nicht gemeint. Conerotte hatte durch seine Teilnahme an einem Spaghettiessen mit den Familien der beiden befreiten Opfer demonstriert, daß er im vorliegenden Fall die Vorschriften der staatsanwaltlichen Unabhängigkeit zu lockern gedenkt – und war nicht damit durchgekommen.

Sollten Gesetzesbrüche im Staatsapparat vorgekommen sein, wie die Demonstranten behaupten, so ist es zwar in der Tat bitter, mit plötzlicher Korrektheit in diesem Moment konfrontiert zu werden – aber doch der einzige Weg, wenn man überhaupt noch Gewaltenteilung und nicht einfach Selbstjustiz wünscht. Vom „Krebs der Demokratie“ hatte ein Mafia- Experte im Zusammenhang mit der Forderung nach „rückhaltloser Offenlegung“ der Beteiligten gesprochen. Es ist bezeichnend, daß gerade auf dieser Demonstration Apelle an König Albert II., den durch die Verfassung zu äußerster Zurückhaltung verpflichteten Monarchen, laut wurden. Die Zwistigkeiten zwischen Wallonen und Flamen, Arm und Reich müßten nun zurückstehen, darin waren sich die Demonstranten einig. Vielleicht hat die Bewegung – neben der Bekundung gemeinsamer Trauer und Angst – in dieser Wiedervereinigung einen zusätzlichen, geheimen Sinn.

Die Schließung belgischer Sexshops, deren Einnahmen zurückgehen, oder die Angriffe gegen die älteste lesbische Buchhandlung der Welt, Vrolijk in Amsterdam, die von den Betreiberinnen mit Belgien in Verbindung gebracht werden, deutet eine weitere Richtung der Bewegung an. Nicht nur werden die klassischen bürgerlichen Errungenschaften der Gewaltenteilung mit scheinbar leichter Hand beiseite gewischt, auch die Befreiungsbewegungen der letzten Jahrzehnte sehen sich einem neuen Mißtrauen ausgesetzt.

In einer Fernsehdiskussion, die das ZDF kürzlich zur Frage „Wer schützt unsere Kinder“ veranstaltet hatte, waren Vertreterinnen von Bürgerinitiativen eingeladen, die nach Opfern von Sexualstraftätern benannt waren, oder Vertreter der 60.000, die sich gegen die Eröffnung einer forensischen Klinik im nordrhein-westfälischen Herten gewehrt hatten.

Vom klassischen „Mob“ unterscheiden sich aber auch diese Initiativen durch ihre eher mittelständische Zusammensetzung; auch wollen sie sich durchaus keine „Kopf-ab“-Parolen zu eigen machen. Eine Sprecherin der bayrischen Initiative „Natalie“ versicherte, man verfalle keineswegs auf Forderungen nach Todesstrafe, nur bestehe man eben auf dem besseren Schutz der Kinder vor Straftätern, die immerhin – selbst bei Behandlung – eine Rückfallquote von 25 Prozent aufweisen, und nach einem „Opferanwalt“. Insgesamt blieb der Ton moderat; die große nationale Schmutz- und Schund- und Erweckungsbewegung ist uns hierzulande bislang erspart geblieben.

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