■ Die Gewerkschaften brauchen weniger Aktions- als Reflexionstage. Denn ihr Dilemma ist strukturell: Die Schattenseite der Jobwunder
Aktionstage sind dazu gut, um die eigenen Leute wieder einmal auf ihre corporate identity einzuschwören. Das meinen wenigstens die Gewerkschaftsführer – und reden dann besonders laut. Aus diesem Grund hört das übrige Publikum nur zerstreut zu. Und die Medien, fast durch die Bank den Gewerkschaften unfreundlich gesinnt, reagieren bestenfalls mit herablassendem Mitleid.
Aktionstage fänden mehr Zuhörer, wenn sich die Gewerkschaften zwischendurch den einen oder anderen Reflexionstag gönnen würden. Aber öffentlich über sich nachzudenken, aus der Dauerkampfpose auch einmal herauszutreten, das fällt ihnen allzu schwer. Das ist nicht zuletzt ein Symptom der Erschöpfung. Viele Funktionäre, seit einem Jahrzehnt nur aus der Verteidigung kämpfend, arbeiten am Rand ihrer Kräfte.
Dabei fehlt es den Gewerkschaften heute nicht an perspektivisch denkenden Köpfen, die auch der leisen Töne mächtig sind. Die IG-Metall-Chefs Klaus Zwickel, Walter Riester, Herbert Mai in der ÖTV, auch der ruhiger gewordene Detlef Hensche bei der IG Medien: Auf der Seite der Arbeitgeber muß man schon weit suchen, bis man überlegte Leute dieser Art findet.
Aber große Organisationen lernen entsetzlich langsam. Bis sie eine neue Wirklichkeit begreifen und klar benennen können, liegt deren Aktualität bereits mindestens ein Jahrfünft zurück. Und wer, wie Gewerkschaften, sich zumeist in der Abwehr bewegen muß, braucht noch länger als die anderen, länger auch als die eigenen Mitglieder.
Die neue Wirklichkeit entschieden beim Namen zu nennen, hieße für die Gewerkschaften freilich, gefährlich nahe an den Rand des Abgrunds zu treten. Und es müßte ihnen schwindlig werden, könnten sie sich zum offenen Wort darüber zwingen, was sie erwartet. Sie müßten dann nämlich offenbaren, daß sie den Konsequenzen aus dieser Erwartung nicht gewachsen sind.
Die Erwartung lautet ja nicht nur, daß es, soweit jede heutige Aussicht reicht, keine Vollbeschäftigung mehr geben wird. Das zuzugeben ist schon schwer genug. Noch schwerer anzuerkennen, daß Arbeitslosigkeit zur Struktur der Marktgesellschaften in Europa gehört. Und zwar nicht erst von nun an, sondern schon seit gestern. Nahezu über die Kräfte geht die Einsicht, daß zunehmende Ungleichheit in allen Lebenssphären das Los der Europäer in den nächsten Jahrzehnten sein wird und daß die Schaffung neuer Arbeitsplätze mit der Schaffung weiter Ungleichheit einhergeht. Ob man neue Arbeit nämlich mit Hilfe von erhöhter Produktivität schafft oder mit Hilfe ihrer Dämpfung, mehr Ungleichheit wird immer die Folge sein – solange der Kapitalismus nur in der Art heutiger Globalisierung expandiert. Am Beispiel Amerikas und Englands mit ihren vermeintlichen Jobwundern kann man das gut studieren.
Strukturelle und damit dauerhafte Arbeitslosigkeit in einem mit vermehrter Ungleichheit – wenn das die beherrschende Perspektive ist, dann geraten die Gewerkschaften in eine praktisch ebenso wie moralisch unhaltbare Position. Wenn sie nur die Interessen der arbeitnehmenden Mehrheitsmittelklasse im abgeschirmten ersten Arbeitsmarkt vertreten können, sind sie bald in der moralischen Minderheit. Sie müssen, an den Mast der Tarifautonomie gefesselt, mit den Arbeitgebern in einem Boot bleiben. Und verstricken sich dabei nur noch in Lebenslügen. Denn das Tarifsystem hält ja schon heute nicht mehr die integrierte Erwerbsbevölkerung zusammen, überall sind Löcher und Risse zu sehen. Aber so schwach diese Zentralinstitution des Rheinischen Kapitalismus ist, die Gewerkschaften können aus ihr nicht ausbrechen. Nicht nur liefen ihnen ihre Mitglieder davon, es bräche auch das korporatistische Gefüge zusammen, das das deutsche Erfolgmodell hinterlassen hat.
Denn der Wohlfahrtsstaat ist zwar in einem lausigen Zustand, aber er hat seine Institutionen, zum Teil schon hundertjährig, hinterlassen. So klapprig sie sind, sie halten einander noch aufrecht, da kann man kein Stück herausbrechen. Darum ist auch der Sozialstaat nicht umkonstruierbar. Er zeigt sich nunmehr auch geeignet, um Ungleichheit herzustellen und zu konservieren.
So oder so schrumpft der Aktionsraum der Gewerkschaften – und damit schrumpft ihre Kampfkraft. Denn die zunehmende Ungleichheit zieht neue Umverteilungskonflikte mit sich: zwischen Berufsprivilegierten und Berufslosen, zwischen Bildungsbegüterten und Bildungsbehinderten, zwischen Jungen und Alten, Männern und Frauen. Diese Konflikte finden immer weniger auf dem alten Terrain des Tarifkampfs statt. Sie können auch nicht, wie die ökonomische Orthodoxie es meint, auf dem Markt und in Konkurrenz ausgetragen werden.
Die Verteilungskonflikte werden unvermeidlich härter, und sie werden in wachsende Unordnung führen. Der Staat, der für Ordnung und Ausgleich sorgen müßte, wird immer schwerhöriger und zieht sich mehr und mehr zurück. Vielmehr, er wird von den Marktkräften zurückgezogen. Das ruiniert nicht zuletzt die funktionslos gewordenen Parteien, die sich nicht mehr auf demokratische Weise um die Umverteilung streiten können. Über allem thront der unerreichbare Gott der Kapitalsteuerung, die Europäische Zentralbank, die bereits herrscht, ehe noch die gemeinsame Währung eingeführt ist.
Wenn sie also im lange behaglichen Gehege des deutschen Korporativismus weiterhin sitzenbleiben, werden die Gewerkschaften bald austrocknen. Und auf einmal werden sie vom Rand her ohnmächtig zuschauen müssen, wie ringsum die Ungleichheiten anwachsen.
Als Gefangene des Systems werden sie aus ihrem Dilemma gewiß nicht einfach herausfinden. Aber sie können sich einen Kopf darüber machen, daß sie mit Anstand und Glaubwürdigkeit nur weiterbestehen werden, wenn sie auf allen Kampffeldern der Gesellschaft in Aktion treten.
Mit anderen Worten, wollen sie auch nur das Schrumpfen ihres Lebensraumes aufhalten, müssen sich die Gewerkschaften rundum politisieren. Es bleibt ihnen nichts mehr übrig, als schleunigst und energisch aus der Rolle zu fallen, die ihnen im verblichenen wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus zugewiesen war. Sich reinen Wein einzuschenken, dafür bietet sich gerade eine gute Gelegenheit: Mitte November will der DGB in Dresden ein neues Grundsatzprogramm beschließen. Das hat sich freilich noch nicht einmal unter allen Gewerkschaftsmitgliedern herumgesprochen. Claus Koch
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