piwik no script img

Polens Bischöfe beteten vergeblich

Abgeordnetenhaus beschließt Liberalisierung des Abtreibungsrechts. Auch Staatspräsident Kwaśniewski kündigt Zustimmung an. Abtreibungsgegner drohen mit Verfassungsklage  ■ Aus Warschau Gabriele Lesser

Die polnische Kirche hatte noch einmal ihre Muskeln spielen lassen. Über 30.000 AbtreibungsgegnerInnen aus dem ganzen Land waren gestern nach Warschau gekarrt worden und hatten vor dem polnischen Parlament gebetet und gesungen. Auf Transparenten warnten sie vor der „Ausrottung Polens“ und einer „Todesgesetzgebung“. Primas Jozef Glemp, das Episkopat und zahlreiche Priester beteten in der Allerheiligen-Kirche für das ungeborene Leben und die Abgeordneten, die über das Abtreibungsgesetz abstimmen würden. In den Tagen zuvor waren zudem im Parlament über drei Millionen Protestbriefe gegen die Gesetzesänderung eingegangen.

Doch alles war vergebens. Gestern stimmten die polnischen Abgeordneten mit knapper Mehrheit für die Liberalisierung des bislang äußerst restriktiven Abtreibungsgesetzes. Damit überstimmten sie das Veto des Senats vom 3. Oktober. Jetzt muß nur noch Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski die Gesetzesnovelle unterschreiben. Er kündigte an, daß er anders als sein Vorgänger Lech Walesa dem Gesetz zustimmen werde.

Damit ist, zumindest rechtlich, ein Streit beendet, der die polnische Gesellschaft seit der Wende 1989/90 immer wieder entzweit hatte. War in der sozialistischen Zeit Polens die Abtreibung noch das normale Verhütungsmittel gewesen, sollte das in der „neuen Zeit“ alles besser werden. Dabei wurde dann allerdings kräftig übertrieben. Im Mai 1992 verabschiedeten die Ärzte Polens auf Druck der katholischen Kirche einen Ethik-Kodex, mit dem sie sich verpflichteten, Abtreibungen nur noch dann vorzunehmen, wenn das Leben der Mutter gefährdet oder die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung war.

Auch Kinder mit nur geringen Überlebenschancen mußten ausgetragen werden. Die persönliche Situation der schwangeren Frau interessierte nicht. Im März 1993 trat ein ähnlich restriktives Abtreibungsgesetz in Kraft. Allerdings durften Föten mit schweren gesundheitlichen Schädigungen straffrei abgetrieben werden. In allen anderen Fällen drohte den Ärzten eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren Gefängnis. Diese Regelung führte tatsächlich zu einem radikalen Rückgang der offiziell registrierten Schwangerschaftsabbrüche.

Hatten 1988 noch 105.000 Frauen den Eingriff vornehmen lassen, waren es seit 1993 nur noch jährlich knapp 800 Frauen. Dafür, so erläuterte Wanda Nowicka, die jedes Jahr einen Bericht über die Folgen des Abtreibungsgesetzes vorlegt, sei ein neuer Wirtschaftszweig entstanden: der Abtreibungstourismus. Pro Jahr, so nimmt sie an, fahren 40.000 bis 50.000 Frauen, die in Polen keinen Arzt gefunden haben, die den Eingriff illegal vornehmen, ins benachbarte Ausland. Der Versuch, das Gesetz zu liberalisieren, scheiterte im Juli 1994 am Veto von Präsident Lech Walesa.

Die jetzt vom Sejm verabschiedete Novelle erlaubt den Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche auch bei einer sozialen Indikation. Die Frau muß ihre persönliche oder finanzielle Notlage in einem Beratungsgespräch darlegen. Die letzte Entscheidung trifft sie selbst und nicht wie bisher der Arzt.

Die Novelle ist vor allem für linke Frauenorganisationen ein Erfolg. Sie hatten immer wieder gegen das in Europa zu den strengsten Abtreibungsgesetzen zählende Paragraphenwerk protestiert. Eine empfindliche Niederlage mußte hingegen die katholische Kirche in Polen hinnehmen. Umfragen in der Bevölkerung, wonach die Mehrheit sich für die Liberalisierung des Gesetzes aussprach und zugleich die übermäßige Einmischung der Kirche in die Politik mißbilligte, waren bei den Bischöfen auf taube Ohren gestoßen.

Bei ihrem Eintreten für das ungeborene Leben vergaß die Kirche, daß das ungewollte „Gottesgeschenk“ nach der Geburt nur allzuoft im Kinderheim für Sozialwaisen landet. Ob diese Kinder geliebt werden, ob sie glücklich sind, das interessierte sie nicht. Es war nicht die Kirche, sondern die Tageszeitung Gazeta Wyborcza, die in den letzten Tagen einen Spendenaufruf zugunsten der notleidenden Kinderheime lancierte. Die Kleriker dagegen gingen auf die Straße und skandierten: „Moral, die Kraft der Nation!“

„Wir sind nach Europa zurückgekehrt“, sagte der Vizepräsident des Sejm, Marek Borowski vom regierenden Linksbündnis, nach der Abstimmung. „Nur Feinde unserer Nation konnten für die Liberalisierung stimmen“, meinte dagegen der Chef der national-katholischen Partei (ZChN), Marian Pilka. Der Vorsitzende der polnischen Föderation der Lebensschützerbewegungen, Pawel Wosiecki, kündigte ein „aktiveres Vorgehen gegen das Töten von Kindern“ an. Außerdem erwäge sein Verband Verfassungsklage.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen