: Alte Weiden
■ Die Goldhagen-Debatte spielt an den Berliner Universitäten kaum eine Rolle
Der Sommer ist ins Land gegangen, die Zugvögel sind gen Süden gezogen, und auch Daniel Goldhagen hat Deutschland wieder verlassen. Es herrscht eitel Friede im Land. Nur ab und an klagt noch ein Nachzügler über die angebliche Verunglimpfung der deutschen Nation. Ansonsten ist es ruhiger geworden um Goldhagens Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ und seine These vom spezifisch deutschen „eliminatorischen Antisemitismus“, der die Mörder in die Lage versetzte, solch grausige Massenmorde zu begehen. Nun wäre es an der Zeit, daß die HistorikerInnen, die den ganzen Sommer über so wortreich über dieses Buch debattierten, den Streit um die Thesen Goldhagens ihren Studierenden näherbringen.
Wissenschaftlich völlig unergiebig
Sollte man meinen. Wer sich jedoch an den Universitäten Berlins umhört, kann sich fragen, ob diese heftigste Kontroverse seit dem „Historikerstreit“ 1986 überhaupt stattgefunden hat. Die Seminarankündigungen verraten jedenfalls nichts davon. Ludolf Herbst, Professor für Zeitgeschichte an der Freien Universität (FU), wird eine Sitzung seines Seminars über „Theorie und Interpretationsprobleme der nationalsozialistischen Zeit“ Goldhagen widmen. Mehr Zeit ist nach Herbsts Ansicht nicht notwendig, schließlich sei die Debatte „wissenschaftlich völlig unergiebig gewesen“.
An der Technischen Universität (TU) sieht es nicht anders aus. Reinhard Rürup will am 30. Oktober zwischen 16 und 18 Uhr das Thema der Universitätsöffentlichkeit näherbringen. Auch am angesiedelten „Zentrum für Antisemitismusforschung“ deutet nichts auf eine Diskussion des Buches hin. Immerhin sind dort die Zuständigkeiten geklärt. „Für Goldhagen ist bei uns der Herr Heil zuständig“, erklärt die Sekretärin, der komme aber erst Ende Oktober zurück. Von Veranstaltungen zum Thema Goldhagen sei ihr nichts bekannt. Einen Lichtblick gibt es am Friedrich-Meinecke-Institut der FU. Wolfgang Wippermann hat kurzfristig ein Proseminar zur Goldhagen-Kontroverse angekündigt. Diese habe gezeigt, wie scharf sich die „vorgeblich selbstbewußte Nation“ gegen jeden Versuch wende, sich durch Mahnen an die Vergangenheit bei der „Bewältigung der Gegenwart“ stören zu lassen. Nebenbei berühre die Debatte viele fachwissenschaftliche und methodologische Fragen. Deshalb eigne sie sich auch zur Einführung in die Geschichtswissenschaft. Wippermann hatte in den Semesterferien für seine ExamenskandidatInnen bereits ein Gespräch mit Goldhagen in der FU arrangiert.
Die Mehrheit der ProfessorInnen hat offensichtlich keinerlei Interesse daran, ihre Studierenden mit aktuellen Fragen zu konfrontieren. Bei denen allerdings ist das Interesse auch nicht groß. Es reiche doch, wenn es an einer Universität ein Seminar zu Goldhagen gebe, meint ein Fachschaftsvertreter der Humboldt-Universität. Auch an der FU stößt man auf Vorbehalte. Kein Wunder, daß die Bücher von Browning und Klemperer, die in der Debatte immer wieder gegen Goldhagen in Stellung gebracht wurden, in der Universitätsbibliothek nicht verliehen waren.
Nationalen Konsens durchbrechen
Es hat den Anschein, als wolle der Großteil der Studierenden und ProfessorInnen das Thema Goldhagen aus dem wissenschaftlichen Diskurs lieber heraushalten. Bleibt zu hoffen, daß in den kommenden Semestern jüngere WissenschaftlerInnen diesen nationalen Konsens durchbrechen und dafür sorgen, daß die Fragen, die Goldhagen aufgeworfen hat, weiterverfolgt werden. Sein Ansatz ist zu wichtig, die wissenschaftliche Herde sollte nicht dem Beispiel ihrer Leittiere folgen und wie diese den Kopf senken, um weiter die alten Weiden abzugrasen. Werner M. Doyé
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