piwik no script img

Ghettoüberlebende gegen Ghettoforscher

■ Wolfgang Scheffler muß 161.700 Mark an den Verein der Überlebenden des Ghettos von Riga zurückzahlen. Von seinem Buch lieferte er nur 26 Seiten

Berlin (taz) – Früher nannten sie sich „Wolfgang“ und „Herman“ und vertrauten einander. Der emeritierte Professor des Instituts für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, Wolfgang Scheffler (67), international berühmt als einer der besten Kenner des Ghettosystems der Nazis und Gutachter bei großen KZ-Prozessen. Und Herman Ziering (74), Vizepräsident der New Yorker „Vereinigung der Überlebenden des Ghettos von Riga“; einer der wenigen deutschen Juden, der die Deportation nach Lettland 1941 überstand. Die früher freundliche, dann immer mehr in die Krise geratene Beziehung ist jetzt zu Ende. Seit vorgestern ist es amtlich.

In einem Zivilprozeß vor dem Landgericht Berlin entschied die Vorsitzende Richterin, daß der Beklagte Wolfgang Scheffler der Klägerin, der „Vereinigung der Überlebenden des Ghettos von Riga“, 161.700 Mark zurückzahlen muß: alles Geld, was Scheffler von dem Verein jemals bekommen hat. Dazu noch Zinsen und Zinseszinsen. Auch die Kosten des Verfahrens hat Scheffler zu tragen.

Der Professor soll zahlen, weil er ein Buch nicht geschrieben hat, das er für die Society hätte schreiben müssen. Ein Buch über die Deportation von mehr als 20.000 deutschen und österreichischen Juden in das Ghetto von Riga, über die Massenerschießungen, über die Konzentrationslager in Lettland, dann in Deutschland, bis zur Emigration nach Amerika. Ein Buch, das die Überlebenden ihren Kindern und Enkelkindern in die Hand geben wollten, damit sie wissen, wie es war. „Keine zweite Habilitation“, sollte es werden, erläutert Herman Ziering vor Gericht, „sondern ein Buch über uns, eingebettet in die wissenschaftlichen Erkenntnisse“. Vereinbart wurde dieses Projekt am 18. Mai 1992. Geplante Arbeitszeit: zwei Jahre.

Auch die Kosten schienen 1992 geklärt zu sein. Das Geld sammelte der Verein von seinen 250 Mitgliedern – Durchschnittsalter 80 Jahre – mühsam ein. Scheffler erhielt 20.000 Dollar bei Vertragsabschluß, 30.000 Dollar für Archivreisen etc., und bis Mai 1994 insgesamt 57.000 Dollar für zwei wissenschaftliche Mitarbeiterinnen. Als im Mai 1994 das Manuskript nicht vorlag, verlängerten die Ghettoüberlebenden auf Schefflers Bitten immer wieder aufs neue den Abgabetermin.

Bis Februar 1995. Dann riß Herman Ziering der Geduldsfaden. Aus New York mit 35 Pfund Akten angereist, sagt er vor Gericht: „Ich konnte ihm nicht mehr glauben. Jedes Mal, wenn wir einen neuen Abgabetermin ausgemacht hatten, hat er ihn nicht eingehalten.“ Der Verein, begründete er, hätte die Zahlungen eingestellt, weil der Professor bis zu diesem Zeitpunkt, außer einer Gliederung, noch nicht eine einzige Seite Text nach Amerika geschickt hatte. Man fühle sich belogen und betrogen. Schefflers Anwalt, Paul Hertin – der Beklagte erschien aus gesundheitlichen Gründen nicht zum Termin – erklärt die stete Säumigkeit mit neuen Aktenfunden in Moskau und Riga 1993/1994 und damit, daß „wissenschaftliche Arbeiten immer seine Zeit“ bräuchten.

Mit der Zahlungseinstellung 1995 war aber das Problem, nämlich endlich ein Buch zu haben, nicht vom Tisch. Der Verein drängte deshalb auf nachträgliche Vertragserfüllung. Ziering fuhr sogar nach Deutschland. Der grüne Bundestagsabgeordnete Winni Nachtwei versuchte vergeblich zu vermitteln. Wolfgang Scheffler schickte im Mai 1995 genau 26 Seiten Text – die bis heute einzigen Leseproben des auf 400 bis 500 Seiten veranschlagten Werkes.

Statt weiterer Leseproben erhielt die Society Briefe von Scheffler mit neuen, endgültigen Abgabeterminen, erst Ende September, dann 31. Dezember 1995. Vorausgesetzt – und spätestens hier ist die Geschichte geeignet, die Reputation des Professors nachhaltig zu schädigen – die Überlebenden des Ghettos ersetzen ihm die angeblich nach der Zahlungseinstellung vom Februar 1995 entstandenen Auslagen. Den beiden wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen, war vor Gericht zu hören, hatte er bereits fristlos gekündigt.

„Von Herrn Scheffler habe ich seit Sommer 1995 nur das Wort Geld, Geld, Geld gehört“, klagt Ziering vor Gericht. Schefflers Anwalt bestätigt dies unfreiwillig. Denn er verspricht, wenn der Verein jetzt 40.000 Mark überweisen würde, würde sein Mandant das Werk zu einem „noch zu vereinbarenden Termin fertigstellen“.

Der nächste Streit ist nach dem Urteil vorprogrammiert: Zierings Anwalt Karl Georg Wellmann deutete in der Verhandlung an, daß sie einen neuen Autor oder Autorin für das Auftragswerk suchen werden. Dieser könnte auf den Vorarbeiten von Scheffler aufbauen, er dafür entschädigt werden. Dieses Denkmodell aber setzt voraus, daß die Materialien, die Scheffler im Laufe der Jahre herbeischaffte, dem Finanzier des Projektes gehören. Dies ist aber eine noch offene Frage. Wolfgang Scheffler will in Berufung gehen. Er werde das Buch schreiben, ergänzt Scheffler, und zwar mit, aber auch ohne die Organisation der Überlebenden. Bis wann, ist zur Zeit noch unbekannt. Anita Kugler

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen