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Pariser Nobelimmobilien „arisiert“

■ Ein neues Buch beschreibt, wie Frankreich von der Enteignung jüdischen Besitzes bis heute profitiert

Paris (taz) – Wenige Wochen nach der Schweiz „entdeckt“ jetzt Frankreich, in welchem Ausmaß sich das Land an der Verfolgung der europäischen Juden bereichert hat. Immobilien, Kunstwerke, Möbel und Kapital aus jüdischem Besitz, die während der Besatzung beschlagnahmt oder zu extrem niedrigen Preisen „gekauft“ wurden, sollen sich bis heute im Besitz der öffentlichen französischen Hand – vor allem der Stadt Paris – befinden. Nachdem die Journalistin Brigitte Vital-Durand in einem in dieser Woche erscheinenden Buch beschrieben hat, wie ein großer Teil des Pletzl, des alten jüdischen Quartiers an der Seine, in den Besitz der Stadt gewechselt ist, ordnete Bürgermeister Jean Tiberi an, daß künftig vor jedem Grundstücksverkauf eine historische Studie über die Immobilie erstellt wird.

Im Jahre 1940 lebten 25.000 Menschen in den engen Gassen des östlich des Pariser Rathauses gelegenen Pletzl, beschreibt Vital- Durand in ihrem Buch „Domaine privé“. Bei der „Befreiung“, vier Jahre später, waren es nur noch 5.000. Die übrigen Bewohner waren Razzien und Deportationen zum Opfer gefallen, geflohen oder mußten der Sanierung weichen, bei der Hunderte von Gebäuden abgerissen wurden. In dem rundum erneuerten Quartier gehören heute 150 Immobilien der Stadt Paris – darin sind unter anderem Diplomaten, Regierungsfunktionäre und Journalisten in luxuriösen Wohnungen zu günstigen Mietpreisen untergebracht.

Über die Umstände der Arisierungen à la française gab es bislang nur Vermutungen. So hatte der Pariser Anwalt Serge Klarsfeld im vergangenen Jahr erklärt, daß sich der französische Staat das Eigentum von Zehntausenden von Juden, die in die Vernichtungslager deportiert wurden, entschädigungslos angeeignet hat. Ihr kompletter Besitz sei bei der Banque de France und im Finanzministerium verschwunden, ohne daß die Überlebenden oder die Angehörigen der Ermordeten Entschädigungen erhalten hätten. Vital-Durand schildert in ihrem Buch, wie die jüdischen Bürger von Paris enteignet oder zum Verkauf ihres Eigentums gezwungen wurden. Die antisemitische Gesetzgebung des Regimes von Vichy und der Ehrgeiz der französischen Polizei, die Razzien selbst zu erledigen, bevor die Deutschen es taten, machten jene Politik möglich.

Heute wird der Stadtrat von Paris über das Thema debattieren. Bürgermeister Tiberi warnt vor einer „Diabolisierung“ der Stadt. Die sozialistische und kommunistische Opposition will einen Untersuchungsausschuß einrichten. Dorothea Hahn

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