: "Medizin und Gewissen" hieß der dreitägige Kongreß, der an den 50. Jahrestag der Nürnberger Ärzteprozesse erinnerte. Thema waren nicht nur die Experimente deutscher Ärzte an KZ-Häftlingen oder das Euthanasieprogramm für "unheilbare" Kranke.
„Medizin und Gewissen“ hieß der dreitägige Kongreß, der an den 50. Jahrestag der Nürnberger Ärzteprozesse erinnerte. Thema waren nicht nur die Experimente deutscher Ärzte an KZ-Häftlingen oder das Euthanasieprogramm für „unheilbare“ Kranke. Diskutiert wurde auch über die Nachkriegskarrieren von SS-Medizinern und über die „lange Phase der Sprachlosigkeit“ in der Gesellschaft. Aber auch darüber, welche Lehren gezogen werden könnten für die aktuelle Diskussion über Eugenik, Bioethik und Gentechnik.
Ende der Nachsicht
Das Bedürfnis nach offener Konfrontation mit dem Geschehenen meldet sich unabweisbar, seitdem diejenige Generation allmählich abtritt, die aus Uneinsichtigkeit, Scham oder Angst die Vergangenheit nicht beredet haben wollte.“ Die rund 1.500 Teilnehmer des Kongresses „Medizin und Gewissen“ in Nürnberg stimmten den Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter optimistisch, daß 50 Jahre nach dem Nürnberger Ärzteprozeß die „lange Phase der Sprachlosigkeit“ über die Verbrechen der Mediziner beendet sei. Und daß entsprechende Lehren für die aktuelle Diskussion über Eugenik, Bioethik und Gentechnik gezogen werden könnten.
Als Signal dafür sollten auf der Tagung, die von der deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) veranstaltet wurde, die „Zehn Nürnberger Thesen“ zur medizinischen Ethik verabschiedet werden. Herausgekommen ist eine „Nürnberger Erklärung“, die noch diskutiert werden soll. Für Richter war der dreitägige Kongreß aber auf jeden Fall ein „Zeichen, daß endlich die Verdrängung eines zutiefst beschämenden Anteils des ärztlichen Berufsstandes an der Geschichte schwindet. Das war ein Anfang und ein Durchbruch.“
Am 25. Oktober 1946, kurz nach dem Ende des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher, reichten die US-Ankläger beim Militärgerichtshof in Nürnberg die Anklageschrift gegen 23 Ärzte und NS-Gesundheitsfunktionäre ein. Schwarz auf weiß waren darin, so Alexander Mitscherlich in seiner Prozeßdokumentation, „Untaten von so ungezügelter und zugleich bürokratisch-sachlich organisierter Lieblosigkeit, Bosheit und Mordgier“ aufgeführt, „daß niemand sie ohne tiefste Scham darüber zu lesen vermag, daß Menschen zu solchem fähig sind“. Dazu gehörten Unterdruck- und Unterkühlungsexperimente, Fleckfieber-, Giftgas- und Knochentransplantationsversuche an KZ-Häftlingen, das Euthanasieprogramm für „unheilbare“ Kranke sowie die Zwangssterilisierung von bis zu 400.000 Menschen. Nach 139 Verhandlungstagen verurteilte der Gerichtshof am 27. August 1947 sieben Angeklagte zum Tode, sieben wurden freigesprochen, der Rest erhielt Freiheitsstrafen zwischen zehn Jahren und lebenslänglich.
„Keiner schob in seiner Verteidigung den einfachen Satz ein: Es tut mir leid“, schrieb Mitscherlich in seiner Dokumentation, die eigentlich an alle deutschen Ärzte verteilt werden sollte. Statt dessen, so betonte der Mediziner und Theologe Richard Toellner auf dem Kongreß, sei es aber so gewesen, „als ob das Buch nie erschienen war“. Während die Angeklagten fortan als Sündenböcke galten, habe sich „die Ärzteschaft als solches frei von jeglicher Schuld“ gefühlt. Was folgte, sei „unbußfertiges Schweigen“ gewesen.
Richter machte in seiner Eröffnungsrede auch die Bevölkerung für dieses Schweigen verantwortlich. Die habe „nichts davon wissen wollen, was ihr Vertrauen in die von ihr am höchsten idealisierte Berufsgruppe zu erschüttern drohte“. Zudem waren viele Ärzte und Professoren nach 1945 wieder in Amt und Würden, umgeben von einem „bemerkenswerten Schutzwall kollegialer Solidarität“.
„Sie wußten es alle, keiner hat protestiert“
Die im Ärzteprozeß zu Haftstrafen Verurteilten übten nach ihrer zumeist vorzeitigen Entlassung ihren Arztberuf wieder aus, die Freigesprochenen sowieso. Dies galt auch für viele an den Menschenversuchen und Tötungsaktionen Beteiligte, wie der Frankfurter Journalist Ernst Klee recherchierte. So wirkte Prof. Georg Otto Schaltenbrand, der in der Psychiatrie auf Schloß Werneck wehrlose Insassen mit Multipler Sklerose infizierte, nach 1945 wieder als Ordinarius für Innere Medizin an der Universität Würzburg und wurde sogar Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. SS- Standartenführer Ernst Günther Schenk, der im KZ Mauthausen Ernährungsversuche mit hoher Sterblichkeitsrate unternahm, wurde nach dem Krieg Wiedergutmachungsexperte für Hungerschäden. Hermann Eyer, Leiter des Instituts für Fleckfieberforschung in Krakau, wurde Dekan der Medinischen Fakultät in München und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie. Ärzte, die im Auftrag von Pharmafirmen in Buchenwald Medikamente erprobten, blieben, so Klee, oft unbehelligt und konnten zum Teil bei Bayer, Boehringer oder Hoechst in den gleichen Positionen weiterarbeiten.
„Sie wußten es alle, und keiner hat protestiert“, postulierte Klee für die Elite der damaligen Mediziner „ein Stück Kollektivschuld“. Er beruft sich dabei auf die ärztlichen Tagungen, auf denen die Menschenversuche mitsamt den Todesfällen diskutiert wurden. Auch die Justiz übte in der Nachkriegszeit Nachsicht mit solchen Ärzten. Willi Dreeßen, Leiter der Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg, verwies auf haarsträubende Urteilsbegründungen. So wurde Kurt Borm, der in Hadamar Menschen getötet hatte, 1972 vom Frankfurter Landgericht freigesprochen, weil er „das Verbotene seines Handelns wegen seiner nationalsozialistischen Erziehung in einem Beamtenhaushalt und da er nicht zu intensiver Gewissensanspannung neige“ nicht habe erkennen können. Bei Horst Schumann, der in der sächsischen Klinik Sonnenstein psychisch Kranke tötete und nach dem Krieg in Gladbeck als Knappschaftsarzt wirkte, arbeiteten Justiz und Polizei im Schneckentempo. Vom konkreten Verdacht bis zur Festnahme vergingen 21 Tage. Zeit genug für Schumann, nach Afrika zu fliehen. Er wurde zwar 1967 ausgeliefert, doch ärztliche Kollegen attestierten ihm Verhandlungsunfähigkeit, so daß er im Juli 1972 entlassen wurde.
Auch bei Aribert Heim, der in Mauthausen hundertfach Juden mit Herzinjektionen tötete und später in Baden-Baden eine Praxis für Frauenheilkunde eröffnete, konnte 1962 kurz vor seiner Verhaftung untertauchen. Er wird heute noch mit internationalem Haftbefehl gesucht.
Knapp entging die Stadt Nürnberg der Peinlichkeit, selbst als Beweis für die Verdrängung der Vergangenheit herzuhalten. Bis zum März hatten die Kongreß-Veranstalter noch große Unterstützung von seiten der Stadt erfahren. Dann gewann die CSU überraschend die Kommunalwahl. „Ich habe keine Lust mehr, die braune Geschichte meiner Stadt ständig auf den Schultern zu tragen“, betonte dann CSU-Fraktionschef Clemens Gsell. Und OB Ludwig Scholz wollte den Kongreß nicht willkommen heißen. Aufgrund massiver Proteste rang er sich doch zu einem Grußwort durch. Durch den Kongreß werde der „Name Nürnbergs mit dem Streben nach Menschlichkeit und ethisch-moralischer Legitimation verbunden“. Paul Harbrecht, Nürnberg
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen