■ Glosse: Roß und Reiter
Legehennen, Juden, Palästinenser, Robbenbabys, Rhesusaffen, Israelis, Kurden, Armenier und viele andere stehen in einem harten Wettbewerb. Wem ist der grausamste Holocaust widerfahren?
Die Schoah war einmalig, deklarieren die Juden und Philosemiten unisono. Mag sein. Doch der quantitative Erfolg, der „Bewältigung der Vergangenheit“, die umgekehrt proportional, mit zunehmender zeitlicher Entfernung von der Schoah an Intensivität gewinnt, ruft „verständliche“ Eifersüchteleien hervor.
Fristen Hennen in ihren Batterien nicht ein zumindest ebenso grausames Schicksal wie die Juden einst im Konzentrationslager, wird uns nahegelegt. Versuchstiere werden ohne Not gemartert. Der Massenmord an „unschuldigen Robbenbabys“ wird im Fernsehen in exhibitionistischer Grausamkeit ausgebreitet und fix mit dem Wort Schoah belegt. Andere erregen sich über „barbarische Viehtransporte“ und „inhumane Fangmethoden“, und bezeichnen dies als
Holocaust, ehe sie sich über einen zarten Rinderbraten oder eine leckere Forelle Müllerin hermachen.
Die Empörung macht nicht bei den Viechern halt. Armenier klagen, daß der Mord der Türken an ihrem Volk, ihr Holocaust, ungesühnt bleibt und in Vergessenheit gerät. Die Türken wiederum empören sich über ihre Diskriminierung in Deutschland und nennen sich die „neuen Juden“. Da kommen sie den Kurden gerade recht, die von den Türken unterdrückt werden! Wenn ein Volk sich als Reinkarnation der verfolgten Juden bezeichnen dürfe, dann nur sie, sagen die Kurden. Damit geraten sie in Konkurrenz zu den Palästinensern. Die reklamieren für sich die Opfer der (jüdischen) Opfer zu sein. Während nationalistische Israelis u.a., je nach Bedarf Yassir Arafat, Saddam Hussein, Chomeini, Wladimir Schirinowski und manch andere als „moderne Hitler“ verteufeln. Fixe Agrarier zögern nicht, das „Bauernsterben“ mit dem Holocaust gleichzusetzen.
Die Ergriffenheit über das eigene Schicksal oder der, nicht nur kulinarisch geliebten, Tiere und der publizistische Rummel über die Schoah, der allerdings Lehren für die Gegenwart ignoriert, läßt allzu viele neidvoll auf die Juden blicken. Sie wünschen sich nur einen Bruchteil von der Aufmerksamkeit, die den Juden zuteil wird.
Die Holocaust-Inflation ist grenzen-, geschmack- und kopflos obendrein. Denn sie erfüllt ihren Zweck zu schockieren keineswegs. Im Gegenteil! Indem Ernstes und Pittoreskes mit dem Holocaust gleichgesetzt wird, gerät dieser zur Floskel. Statt damit Aufmerksamkeit zu erregen, verliert man sie.
Warum nennt man die Scheußlichkeiten nicht bei ihrem eigenen Namen. Weshalb protestiert man nicht gegen Tierquälerei, Krieg, Diskriminierung und Völkermord? Statt Roß und Reiter zu nennen, will man immer neue Holocaust-Emotionen produzieren. Rafael Seligmann
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