: NS-Untaten – von der Amnesie zur Amnestie
Der Münchner Historiker Norbert Frei untersucht in einer grundlegenden Studie, wie die Westdeutschen in Adenauers Staat mit dem Problem der NS-Vergangenheit politisch und juristisch umgingen ■ Von Peter Reichel, Hochschullehrer in Hamburg
Zwei spektakuläre Enthüllungen von NS-Tätern sorgten im vergangenen Jahr für Aufsehen: Im September wurde in der taz die Vergangenheit des Journalisten Peter Grubbe aufgedeckt: Der gelernte Jurist hieß Claus Peter Volkmann, war 1941/42 Kreishauptmann im galizischen Kolomea und als solcher in das Geschehen der „Endlösung“ verstrickt.
Im Mai 1995 hatte man den ehemaligen Rektor der TH Aachen, den angesehenen, als linksliberal geltenden Literaturwissenschaftler Professor Hans Schwerte enttarnt: Als Hans-Ernst Schneider war der frühere SS- Hauptsturmführer in Himmlers „Ahnenerbe“ beschäftigt.
Zwei Enthüllungen, die an die NS-Vergangenheit erinnerten und noch mehr an das erste Jahrzehnt danach, als die mehr und weniger Belasteten durch zahlreiche legislative Maßnahmen entlastet wurden oder sich gegenseitig entlasteten. Sie taten das in den Entnazifizierungsverfahren durch „Persilscheine“, durch geschönte Lebensgeschichten oder eben durch Annahme eines neuen Namen.
Abwicklung der Altlasten
Die Amnesien und Amnestien, die Abwicklung der Kriegsverbrecherfrage sowie die gerichtlichen und alliierten Normsetzungen und Bewertungen des Nationalsozialismus aus Anlaß verschiedener Skandale und Prozesse – wie die Hedler- und die Naumann-Affäre, der Remer-Prozeß und das SRP- Verbot – sie sind Gegenstand der eben erschienen grundlegenden Untersuchung des Münchner Zeithistorikers Norbert Frei.
„Am Anfang war ... die Amnestie“, schreibt Frei gleich zu Beginn, pointiert, aber doch nicht überzogen. Denn Bundesregierung und Bundestag haben viel unternommen, die NS-Belasteten zu entlasten und in die Wiederaufbaugesellschaft zu integrieren. Gewiß, es gab bis Anfang der fünfziger Jahre mehr als 17.000 Ermittlungsverfahren und über 5.000 Verurteilungen durch westdeutsche Gerichte. Aber anschließend stand die Abwicklung der NS-Altlasten ganz obenan auf der politischen Tagesordnung. Wie wenig die Volksvertreter damals daran dachten, eine Debatte über Ursachen und Folgen des Dritten Reiches, über Schuld, Strafverfolgung und Sühne der NS-Gewaltverbrechen zu veranstalten, das zeigte schon ihre Aussprache über das 1. Straffreiheitsgesetz von 1949. Wenig war darin von den NS-Straftaten die Rede, aber viel von den „verwirrten Zeitverhältnissen“ (Adenauer), den Jahren des Zusammenbruchs und der Not. Von diesem Amnestie-Gesetz profitierten einige 10.000 NS-Straftäter, zumeist minder schwere Fälle.
Der gesellschaftlich breit fundierte „Widerwille“ (Fritz Bauer) gegen eine eingehende politisch- justitielle Auseinandersetzung mit dem NS-Unrechtsstaat und seinen Gewaltverbrechen fand seinen Niederschlag in einem weiteren Straffreiheitsgesetz (1954), vor allem aber im Umgang mit dem Kriegsverbrecherproblem und dem sogenannten 131er Gesetz. Mit diesem wurde ein Relikt der unpopulären alliierten Säuberungs- und Reformpolitik liquidiert, wurden etwa 350.000 ehemalige Beamte und Berufssoldaten der Wehrmacht rehabilitiert, die nach 1945 entlassen worden waren. Zu Recht spricht Frei von einer „großzügigen Integrationsleistung“ und verweist zugleich auf eine heute weitgehend vergessene Kontroverse, die seinerzeit das Bundesverfassungsgericht und der Bundesgerichtshof austrugen.
Beide zeigten sich beamtenfreundlich und integrationsorientiert, unterschieden sich aber in ihrer Geschichtsdeutung. Während der BGH argumentierte, daß die Beamtenverhältnisse vom Wechsel der Staatsform unberührt geblieben seien, weil sich der rationale Verwaltungsstaat gegenüber den NS-Machthabern behauptet hätte, sprach das Bundesverfassungsgericht von einer weitgehenden „Zerstörung des parteipolitisch neutralen Berufsbeamtentums“ und machte geltend, daß ervom Professor bis zum Reichsbahnbeamten in je spezifischer Weise in die Diskriminierung und Verfolgung von Juden und anderen „Fremdvölkischen“ und „Gemeinschaftsfremden“ verstrickt gewesen sei. Im dominanten NS- Bild der Zeit hat diese bemerkenswert realistische Sicht allerdings keinen Niederschlag gefunden.
„System von Nürnberg“
Bestimmend für das Selbstverständnis der westdeutschen Bevölkerung wurde vielmehr das Kriegsverbrecherproblem. „Der zähe Kampf um die Freilassung der ,Kriegsverurteilten‘“, so Frei, „führte zu einer fatalen Solidarisierung breiter Kreise ... mit den Straftätern und politischen Apologeten; in gewisser Weise erfuhr die nationalsozialistische Volksgemeinschaft damals ihre sekundäre Bestätigung.“
Das kam nicht von ungefähr. Zahlreich und einflußreich waren die Organisationen und Personen, die das „System von Nürnberg“ zu diskreditieren und die Bestrafung der Kriegsverbrecher durch die Alliierten ins Zwielicht einer fragwürdigen Siegerjustiz zu rücken versuchten.
Die Kirchen taten sich dabei ebenso hervor wie die Parteien, wie ehemalige Wehrmachtsoffiziere und der aus Nürnberger Verteidigern und konservativen Juristen bestehende Heidelberger Kreis. Die SPD konnte oder wollte dem „vergangenheitspolitischen Populismus“ nur bedingt gegensteuern, aber die FDP, DP und BHE legten im Hinblick auf zahlreiche „Ehemalige“, „Entehrte“ und „Entrechtete“ in ihrer Klientel besonderen Eifer an den Tag. Und ihre Linie war klar: Schuld geworden war nur eine Minderheit: die Entscheidungsträger in der NS- Führung und die unmittelbar in die Verbrechen involvierten Täter. Die Funktionseliten und die Wehrmachtssoldaten aber sollten vom Makel einer Mitschuld freigesprochen werden. Immer wieder wurde die Forderung nach einer Generalamnestie laut, als Voraussetzung einer „Befriedigung nach innen und außen“.
Im Zusammenhang mit den Verhandlungen um die deutsche Wiederbewaffnung und Westintegration wurde deshalb auch immer wieder die „nationale Karte“ gespielt. Es gab keine Generalamnestie, aber mit der Ratifizierung der Westverträge wurden die alliierten Gefängnisse in Landsberg, Werl und Wittlich weitgehend leer. Andererseits gab es eine – so Frei – „latente Interventionsdrohung“, vor allem durch die alliierten Hohen Kommissare, McCloy und Sir Kirkpatrick. Sie mahnten die Deutschen maßvoll, von Affäre zu Affäre, „zur Pflege des antinationalsozialistischen Gründungskonsenses“.
Internationale Dimension
So sehr das Buch die innenpolitische Dimension der Vergangenheitspolitik transparent macht, auch die internationale Seite dieses Politikfeldes kommt angemessen ins Blickfeld. Damit schließt Frei nicht nur eine Lücke, sondern auch an die Studie von Ulrich Brochagen an („Nach Nürnberg“, 1994), der die außenpolitische Bedeutung der Vergangenheitsbewältigung eingehend untersucht hat.
Zugleich markiert die Arbeit eine wichtige wissenschaftlich-politische Position in der hitzigen aktuellen Debatte. Denn sie offenbart in ihrer differenzierten Argumentation und quellenfundierten Darstellung indirekt die Schwächen ebenso der linkspolemisch überzogenen (Giordano) wie der apologetischen Schriften (Backes, Jesse, Kittel, Wolffsohn und Zitelmann): Ralph Giordano und alle Verkünder einer „zweiten Schuld“, die sich gerne zum Gewissen der Nation aufschwingen, können bei Frei lernen, daß moralisches Pathos und eitle Anklägerpose Quellenstudium und intellektuelle Redlichkeit nicht ersetzen. Und jenen neukonservativen Revisionisten, die glauben, uns vor dem „neurotischen Dauergeschwätz über die NS-Vergangenheit“ (H.P. Schwarz) warnen zu müssen, tritt diese ebenso engagierte wie analytisch-distanzierte Studie entschieden entgegen.
„Vergangenheitspolitik“
Die Historiographie der west- und ostdeutschen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit steht erst am Anfang. Zudem agiert sie in einem neuen, nationalstaatlichen Bezugsrahmen. Das mag manche Polemik erklären und auch eine gewisse begriffliche Unbestimmtheit. Frei hat nun den Ausdruck „Vergangenheitspolitik“ eingeführt – als Ober- und Sammelbegriff für „Amnestie, Integration und Abgrenzung“. Aber er macht so inflationären Gebrauch von ihm, daß die behauptete Trennschärfe letztlich zweifelhaft bleibt, zumal er auf eine Erörterung anderer einschlägiger Begriffe – „Geschichtspolitik“, „Erinnerungspolitik“ usw. – verzichtet.
Diese Begrifflichkeit zeigt im übrigen an, daß die Historiographie der Vergangenheitsbewältigung verschiedene, miteinander vernetzte Handlungsfelder und Rezeptionsgeschichten systematisch unterscheiden, aufeinander beziehen und multidisziplinär bearbeiten muß. Nämlich: ein kognitives Feld (die wissenschaftlich- publizistischen NS-Debatten und ihre den Zeitströmungen unterworfene Geschichte). Ein emotional-affektives (die Geschichte gemeinschaftlicher Erinnerungsfeiern und Gedenktage). Ein ästhetisch-expressives (die Geschichte der Vergegenwärtigung von Vergangenheit in Museen, Denkmälern und Gedenkstätten, in Literatur, Film und Theater) und nicht zuletzt ein moralisch-praktisches, eben die von Frei für die erste Nachkriegsdekade untersuchte Geschichte der politisch-justitiellen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit.
Bedauerlich erscheint allein, daß Frei seine empirisch dichte, dabei flüssig geschriebene, in ihren Bewertungen oft zugespitzte, aber selten überzogene Studie und ihre Ergebnisse nicht in diesen größeren Zusammenhang einordnet. Das hätte auch dem Gewicht seiner imponierenden Forschungsleistung entsprochen.
Norbert Frei: „Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit“. C. H. Beck Verlag, München 1996, 464 Seiten, 78 DM
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