: Das Leder der Geschichte
Mit Derwall ein Debakel, mit Vogts ein Erfolgstandem: Wie Helmut Kohl Rekordnationalkanzler wurde ■ Von Norbert Seitz
Als wolle er endlich den Loser rauslassen, ging Berti Vogts nach dem jüngsten Triumph von Wembley vor den Fans in die Knie. Er konnte sich diesen Hauch von unfreiwilliger Selbstironie leisten, hatte er doch bei Helmut Kohl jenen Faden der Geschichte wiedergefunden, nach dem „es ein Schicksal gibt, das immer gut für den deutschen Fußball ausgeht“. Libération formulierte es so drastisch, anno 84 zur EM in Frankreich, als das „deutsche Fußball- Monster“ mit Derwall unterging und Kohls junge Kanzlerschaft das erste große Fußballturnier zu überstehen hatte.
Damals, anderthalb Jahre nach der Kanzlererringung, begann sein unaufhaltsamer Marsch durch die Stadien, Camps und Kabinen. Bis er die glückliche Symbiose im Jahr seiner Rekordkanzlerschaft tatsächlich schaffen sollte. Zwischen Derwalls Debakel 1984 und Vogts' Triumph 1996 bearbeitete Kohl intensiv das deutsche Leder, bis es ihm im Londoner Wembley-Stadion in diesem Sommer wie nach einer geheimen Regie zu gehorchen schien: Deutschland als Fußballeuropameister – so stark, so unangefochten und doch so stilarm wie er, hart wie Helmer, zäh wie Ziege und nachtretend wie der Coach!
Vor allem war da aber eine entwaffnete Gegnerschaft: Aus notorisch Schadenfrohen waren „Klinsi!“-Chöre geworden. Hat die geistig-moralische Wende zu guter Letzt doch noch stattgefunden, zumindest symbolisch: in Bertis schlichter Rasenwelt voller schmerzüberwindender Charakterdarsteller?
Kohls Vorgänger berührten die Fußballszene höchst unterschiedlich. Adenauer delegierte das „Wunder von Bern“ an den Staatssekretär im Innenministerium. Sein fußballbesessener Nachfolger Erhard (Greuther Fürth) verpaßte während der WM 1966 in England seine Kanzlerschaft vor dem Bildschirm. Brandt ließ sich während des ersten Spiegel-Gesprächs nach seiner Kanzlerwahl die Zwischenresultate des legendären WM- Qualifikationskrimis gegen Schottland reinreichen. Beim 3:2 fragte er: „War's Uwe?“ Irrtum, Libuda war's. Gott hab' euch beide selig – Stan und Willy!
Helmut Schmidts Startbonus – der zweite deutsche WM-Titel nach achtwöchiger Kanzlerschaft – war nach 1974 rasch verzehrt. Von Giscard bis Battiston vollzog sich sein unvermeidbarer Abstieg: zwischen Hoeneß' Wolkenelfer (1976), der Schmach von Cordoba (1978) und Fußballdeutschlands Sittenverfall im Jahr des Kanzlersturzes.
Es war die Zeit, da Biedenkopf die Innovationskeule schwang und davon sprach, sozialistische Politik habe unsere Leistungsträger entmutigt: „Wenn es mehr Rummenigges gäbe, sähe es in unserem Lande anders aus.“ Die geistig- moralische Wende war also auch auf dem Rasen angesagt, doch Kohls erster Auftritt bei der EM- Equipe in Frankreich sollte sich zunächst noch als Fehlschlag erweisen. Der Zuspruch fruchtete nicht, den er dem allseits gescholtenen Jupp Derwall angedeihen ließ. Dieser hatte noch vierzehn Tage vor seinem schmählichen Abtritt erklärt: „Der Bundeskanzler hat mir Mut zugesprochen. Eine Geste, die mich richtig glücklich machte.“ Der Kanzler hatte seinem Trainer vergeblich eine Trainingseinheit im Durchhalten empfohlen: „In der Politik ist's wie im Sport: immer wieder Höhen und Tiefen, da muß man durch.“
Doch die Wende nahm auch ohne den kanzlerhörigen Derwall ihren Lauf. Seit Beckenbauer singen Nationalkicker das Deutschlandlied, reden Trainer pausenlos von Charakterstärke und Überwindungskraft. Als die deutsche Rumpf-Elf 1986 ins WM-Finale von Azteca stolperte, sollte sich Kohls erste Fußballsternstunde ereignen. Kurzerhand ließ er einen Bundeswehrjet mit national zuverlässigen Politikern und duzfähigen Fußball-Oldies starten, um die gegen Maradona arg unterlegenen deutschen Finalkicker mit einer Spontanfraternisierung zu überraschen.
Für seine populistischen Bruderküsse mußte er manches rüde Tackling in der Presse einstecken, zumal die stilistischen Vergleiche zwischen seiner mediokren Art von Politik und der unansehnlichen Spielweise der DFB-Equipe nur so ins Kraut schossen.
Doch Kohl gab nicht auf, zumal sich bald darauf die glückliche Koinzidenz ergab, daß im Jahr seines turnusgemäßen EU-Vorsitzes die Euro im eigenen Lande stattfinden sollte. Der Turnus meinte es gut, aber nicht das Turnier. Bei Euro 88 versagte ausgerechnet sein kämpferischer Komparativ, Kohler, im Duell gegen die Holländer. Von da an ging's bergauf. Auch die Fußballhistorie sollte es fortan gut mit dem bemühten Kanzler meinen.
Als der Teamchef 1990 das deutsche Erfolgsjahr komplettieren sollte, konnte Kohl endlich den Gleichschritt des Fußballs mit dem „Tempo der Geschichte“ konstatieren. Freilich mußte er beim WM-Triumph im römischen Olympiastadion dem ungeliebten Stilisten von Weizsäcker den Vortritt lassen. Kohl versuchte aber die protokollarische Scharte in der Spielerkabine wieder auszuwetzen. Mit ganzer Körpergewalt soll er damals den Polizeicordon im römischen Stadion durchbrochen haben, um nach den Weltmeistern Ausschau zu halten. Ein Mann suchte seine Mannschaft.
Zum Dank an den Kanzler der Einheit gebar ihm der DFB einen kohlwürdigen Beckenbauer- Nachfolger, den Sohn vom Niederrhein. Erst jetzt konnte er sich so recht als guter Onkel des deutschen Fußballs in Szene setzen und erklärte schon bald auch den nationalen Kicksport zur Chefsache und Bertis Wohl zu seiner Herzensangelegenheit.
„Wir haben einen Draht zueinander. Auch er bemüht sich, das Beste für unser Vaterland zu erreichen.“ O-Ton Bundestrainer über Bundeskanzler.
Auch das deutsche Vereinswesen meinte es gut mit dem glücklichen Regierungschef. Der Kaiserslauterer Sensationstitel in der Vereinigungssaison 90/91 kam ihm als willkommene Renaissance nachkriegsdeutscher Aufbautugenden gerade recht.
Doch der ergebene Vogts hielt dann zunächst nicht, was der ehrgeizige Regent sich von ihm versprach. Dabei lief im Wahlkampfjahr 1994 zunächst alles nach Plan. Herausforderer Scharping hatte sich mit dem medialen Fauxpas, Vogts noch vor (!) der WM zum „Auslaufmodell – wie Kohl“ zu deklarieren, eine Dolchstoßlegende aufgeladen.
Der siegesgewisse Kohl malträtierte das Leder beim Schuß auf die Torwand von Sat.1 und jettete zum Eröffnungsmatch bei Clintons. Nach der US-Pleite der DFB- Equipe mußte er alle Überredungskünste aufbringen, um seinen beleidigten Rasenspezi zum Bleiben zu motivieren.
Dieser bedankte sich auf seine Weise für das Vertrauen, indem er die Nationalmannschaft in England zur Keimzelle einer geistig- moralischen Wende umfunktionierte. Eine deutsche Notgemeinschaft auf dem Rasen feierte ihre internationale Auferstehung durch Tugendoptimierung, Duselstau und Ästhetikverzicht: „Die deutschen Tugenden haben hier wirklich gegriffen“, schwärmte Vogts ergriffen, „Kampf, Disziplin, ehrliche Arbeit, sich gequält, geopfert zu haben für die Mannschaft, das ist Klasse!“
Die Durchhaltetruppe siegte über ihre taktisch bisweilen verbildete Konkurrenz. Zwischen Old Trafford und Wembley wurde aus dem Gemütstandem Kohl/Vogts endlich auch ein Erfolgsduo. Was beim geschwächten Derwall scheitern mußte, mit Beckenbauer einem Stilbruch gleichgekommen wäre, schaffte Kohl schließlich mit seinem Adoptivsohn Vogts: eine Erfolgssymbiose aus Politik und Fußball, Kanzler und Trainer. Endlich konnte der massive Kohl dem kleinen Vogts einen Teil seiner schier unermeßlichen Fortüne übertragen. Zum Dank verklärt Vogts seitdem die Fußballnationalmannschaft als deutschen Sonderweg gegen das in Europa grassierende Liganeugründungsunwesen: „Sie wird immer des Deutschen liebstes Kind sein.“
Seit mit dem Bosman-Urteil „die Flut der Ausländer kommt“, registriert der Bundestrainer denn auch sorgsam den prozentualen Anteil nichtdeutscher Bundesligaprofis, um der Entfremdung des hiesigen Tugendkickens Einhalt zu gebieten. Doch Kohl braucht Vogts nicht gegen Europa, sondern gegen die Lohnfortzahlung.
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