: Die Banalität des Guten
■ Kohl ist Deutschland, und Deutschland ist Kohl. Über die Genialität des Mittelmaßes
umph: Oktober 1990. Dieses Mal weht der Atem der Geschichte, denn es sind die ersten Wahlen im vereinigten Deutschland. Der vierte Sieg im Jahre 1994 ist der knappste. Beinahe hätte der Kanzler Churchills Schicksal erleiden können: wegen abgeleisteter Dienste entlassen. Im März 1994 hätte niemand in Deutschland auch nur eine Mark auf seinen Sieg verwettet.
Gewiß, auch Kohl ist ebenso wie Truman nicht unbesiegbar. Er hat während dieser 14 Jahre bei Teilwahlen ständig verloren, Länder und Großstädte fielen in die Hände der Sozialdemokraten. Diesen vielen kleinen Wahlschlappen entsprachen die unheilvollen Meinungsumfragen. Kaum daß Kohl wiedergewählt war, erschien er bei der nächsten Wahl als sicherer Verlierer. Seit vierzehn Jahren erlebt Deutschland die gleiche Politkomödie: Man schmäht den Kanzler, doch im entscheidenden Augenblick traut man sich nicht, sich von ihm loszusagen.
Das nicht enden wollende Wunder ist vor allem das Werk des Kanzlers, der sich nun in der politischen Kochkunst gut auskennt. So zögert er nie mit Gesten, die zwar im Ausland nicht gern gesehen werden, die aber entscheidend dafür sind, daß ihm sein rechter Flügel treu bleibt. Als Katholik, durchdrungen von dem Anspruch, Deutschlands geschichtlichen Wiederaufstieg fortzusetzen, widerstrebt es ihm nicht, in Begleitung von Ronald Reagan den Militärfriedhof von Bitburg zu besuchen, obwohl sich dort auch Gräber der Waffen-SS befinden.
Desgleichen läßt sich der Repräsentant eines bescheiden gewordenen Deutschland nach dem Fall der Mauer mit der De-jure-Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze reichlich Zeit, um den Millionen Ostflüchtlingen zu zeigen, daß er nicht durch eine schlichte Gewinn- und-Verlust-Rechnung deren Heimat abschreibt. Dazu kommen noch einige traditionell konservative Ansichten in Sachen Moral – Abtreibung, Religionsunterricht – sowie einige volkstümliche Ausfälle gegen die Intellektuellen, bei Bedarf ein Schuß Demagogie, und schon hat er gewonnen. Auf konservativer Seite zeichnet sich weit und breit kein neues Profil ab. Seine ständige Aufmerksamkeit gilt dem Bündnis mit den Liberalen. Mit einer „Leihstimmenkampagne“ erhält er sie am Leben: So hält er sich seit 1982 im Zentrum bedeckt.
Da der Abstieg der Liberalen von nun an unaufhaltsam scheint, sieht man nun den gleichen Helmut Kohl, der jahrelang gegen die Grünen gefochten hat, wie er mit ebenjenen zu flirten beginnt, wobei ihm dies allerdings durch die zunehmende Verbürgerlichung und gesellschaftliche Einbindung der ehemaligen Protestler erleichtert wird. Wenn also 1998 die FDP die fünf Prozent nicht erreichen sollte, dann könnte der Riese aus Ludwigshafen mit Hilfe der Ökologen über eine Mehrheit verfügen. Müssen nun die Sozialdemokraten so ungeschickt sein und der Kanzler so diabolisch, damit die Hypothese einer rot-grünen Regierung weniger wahrscheinlich wird als ein Bündnis zwischen Schwarzen und Grünen? Cohn- Bendit als Kohls Minister? Welch schelmischer Schicksalsstreich stünde uns da bevor!
Dieser Mann, der zum „Kanzler der Einheit“ wurde, ist durchaus kein Heiliger. Wenn es sein mußte, hat er sicherlich geheuchelt, und zweifellos hat er andere hintergangen, als er zum Beispiel François Mitterrand, aber anscheinend auch Hans-Dietrich Genscher den „Zehn-Punkte- Plan“ verschwieg, mit dem zum erstenmal das Tabu einer Vereinigung der beiden Deutschland aufgehoben wurde. Er ist, als es um die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ging, aus parteipolitischen Gründen hart am Abgrund spaziert, womit er mit seinen westlichen Alliierten das Risiko einer schweren Krise einging. Er hat seinen Kalender mit dem Wahltermin im Kopf geplant, wartete zunächst das Ergebnis der ersten Wahlen in Ostdeutschland ab, um dann abschätzen zu können, ob eine schnelle Vereinigungschance seinen Triumph im Herbst 1990 verbessern würde oder nicht.
Aufrichtig und gelegentlich heuchlerisch; solidarisch und manchmal brutal; dem Anschein nach spontan und in Wirklichkeit ein raffinierter Stratege, gutmütig im Ton und knallhart in seinen Absichten, plump in seiner Haltung und mit einem unglaublichen Gespür für den richtigen Augenblick: Kohl erscheint in diesen Jahren wie ein politisches Wunder. Er überflügelt bei weitem all diejenigen Führer, deren hauptsächliches Verdienst wie bei Truman in ihrer inneren Festigkeit bestand. Sicherlich mußte auch er so entschlossen sein wie sie und noch viel phantasievoller; ebenso unbeugsam und doch beweglicher, ebenso starrköpfig und doch anpassungsfähig. Hut ab, Herr Kanzler!
Kohl versteht sich nun als Kanzler der europäischen Einigung, genauso wie er sich vor fünf Jahren als Kanzler der deutschen Einheit dargestellt hatte. Er hat dies mit einer Bestimmtheit ohnegleichen auf dem letzten Parteitag der CDU bestätigt: Denen, die, wie er sagte, „hinter den Kulissen flüstern“ und am europäischen Engagement seines Landes Zweifel hegen, versichert er, daß „Deutschland keine Alternative hat und den Kurs hält“ und daß „der Aufbau einer starken Union mit einem Wohnrecht für unsere amerikanischen Freunde die einzige Garantie für Frieden und Freiheit in Europa ist“. Das klingt nicht so wie die geschliffenen Metaphern eines François Mitterrand, aber die Botschaft ist klar.
Der Führer der Christdemokraten ist bei dieser Gelegenheit sogar noch weiter gegangen. Er erinnerte daran, daß einige Jahre zuvor sich niemand einen neuen Balkankrieg hätte vorstellen können, daß auch das Schlimmste immer noch möglich ist und daß sich ohne einen schnellen Aufbau Europas auf längere Sicht zwischen den wichtigsten Ländern des Kontinents ähnlich schlimme Dinge ereignen können. Welcher andere Staatsmann hat sich getraut, solche von Pessimismus geprägten Worte zu gebrauchen, um zukünftige Unwägbarkeiten zu beschwören?
Mit dem Parteijargon ist der Kanzler nicht vertraut, schon gar nicht, wenn es um das Wesentliche geht. Seine Leidenschaft für Europa ist so stark, daß sie Rätsel aufgibt: War es vorstellbar, daß Millionen Fernsehzuschauer diesen politischen Bulldozer, diesen rheinischen Gargantua, weinen sahen, als deutsche Truppen im Rahmen des Eurokorps am 14. Juli 1994 auf den Champs-Élysées defilierten?
Täuschen wir uns nicht: Kohl ist weder ein Heiliger, noch gibt es bei ihm etwas umsonst, und auch gegenüber der öffentlichen Meinung stellt er sich nicht taub. Er wird immer notwendige Garantien einfordern, um im entscheidenden Augenblick garantieren zu können, daß die Einheitswährung genauso stark sein wird wie die Mark. Die anderen, und da vor allem Frankreich, werden auch über die Vereinbarung von Maastricht hinaus einen hohen Preis zahlen müssen. Kohl wird nicht auf einen Spielplan hereinfallen, der zwar vorsieht, daß die Partner seines Landes Anstrengungen unternehmen, um die Kriterien für die Einheitswährung zu erfüllen, dann aber nach getaner Tat wieder in den alten Schlendrian verfallen. Gerecht, selbstsicher, gewachsen durch die Sache, mit der er sich identifiziert, wird er bei den wesentlichen Dingen großzügig und bei den Nebensachen kleinlich sein.
Das ist übrigens eine typische Haltung bei ihm. So zögert er nicht, dem holländischen Ministerpräsidenten Ruud Lubbers den Weg zur Nachfolge von Jacques Delors aus dem einzigen Grund zu verbauen, daß sich dieser bei der deutschen Wiedervereinigung zurückhaltend gezeigt hatte. Ein Mann, der es wagt, sich auf dem internationalen Parkett so rachsüchtig zu geben, ist natürlich auch auf seinem eigenen politischen Terrain ein „Killer“.
Wer sich jemals Kohl entgegenstellte, hat sich davon nie wieder erholt. Wie viele christdemokratische Funktionsträger haben sich nicht in den neuen Ostländern in der Hoffnung festgesetzt, daß sie durch diese Art Missionstätigkeit der Vendetta des Kanzlers entkommen könnten. Kohl kann man bewundern, aber in Sachen Menschenführung ist er kein „Freiherr“. Da er sich nur mit wichtigen Dingen abgibt, gibt er seine schlechten Angewohnheiten an die unteren Ebenen ab. Damit verhält er sich so, wie es für die Großen der Geschichte typisch ist: Waren de Gaulle oder Churchill nicht aus dem gleichen Holz geschnitzt, wenn man sich den Heiligenschein einmal wegdenkt?
Ist Kohl der beste Diplomat Europas? Beherrscht dieser Anti-Talleyrand, Anti-Kissinger, der ebenso verläßlich ist, wie der erstere es kaum war, und der ebenso wenige Konzepte hat wie letzterer, seinesgleichen durch sein Talent, durch seine Erfahrung oder durch sein Gewicht, das ihm sein Land zubilligt? Seit 1990 kann er nicht mehr so tun, als ob es sein hauptsächlicher Triumph sei, unterschätzt zu werden.
Nachdem er zuerst mit François Mitterrand und jetzt allein zum Eckpunkt des Westens geworden ist, profitiert er – was bei diesem Tanz der kaltschnäuzigen Ungeheuer, die Staaten allemal sind, sehr selten ist – von einer legitimen Rente.
Welch unglaubliche Entwicklung: Der Führer eines Landes, das sich durch seine Geschichte verdächtig gemacht hat, ist umstandslos das rechtmäßigste aller Mitglieder im Klub der Staatschefs geworden. Noch vor zehn Jahren wurde jeder Vorschlag Kohls immer mit der mißtrauischen Elle gemessen und unter dem negativsten Aspekt aufgenommen. Heute wird seine Wahrheit zum Evangelium und seine Stimme zur reinen Vernunft! Dieser Provinzpolitiker verwandelt sich in ein Symbol kantischer Politik, dieser Antiintellektuelle wird zum Deus ex machina einer ausgeklügelten Diplomatie, dieser vom schlechten Gewissen der Nachkriegsgeneration geprägte Deutsche verwandelt sich in einen Garanten des Friedens, dieser plumpe Demagoge mausert sich zum strengen Schulmeister seiner Landsleute. Die Streiche, welche die Geschichte spielt, haben manchmal etwas Gutes!
Kohl steht nun ganz allein für Deutschland, und er weiß das. In Friedenszeiten ist eine solche Stellung äußerst selten. Kriege bringen eher solche schicksalhaften Situationen hervor, in denen für kurze Zeit ein Mann für ein Land steht: Clemenceau 1917; Churchill 1941. Doch sowie die Völker von ihren Ängsten wieder befreit sind, rächen sie sich so bald wie möglich an diesem Gefühl der Abhängigkeit und treiben die Undankbarkeit so weit, den Helden brutal zu entlassen.
Das Kohl-Wunder besteht darin, solchem Vorbild zu entkommen. Er verkörpert Deutschland, mächtig und bescheiden, patriotisch und europäisch, gemütlich und tüchtig, grobschlächtig und feinfühlig, beherrschend und freundlich, sozial und kapitalistisch und vor allem extrem demokratisch, vielleicht das demokratischste Land Europas, solange man die Demokratie an der Stärke von Macht und Gegenmacht mißt. Er stellt zudem ein Deutschland in Friedenszeiten dar, eine noch viel erstaunlichere Gleichsetzung. Niemand in Deutschland kann ihm heute diese Rolle streitig machen. Nun verkörpert er Deutschland wirklich. Nicht schon seit 1982 – man hatte sich seiner so lange geschämt –, sondern seit 1990. Und wenn er sich 1998 wieder zur Wahl stellt und er, wenn nichts dazwischenkommt, wiedergewählt wird, dann für eine unglaublich lange Periode, die bis 2002 reichen wird.
Zwanzig Jahre lang an der Macht, und das in den heutigen hochmediatisierten Demokratien, die Politiker im gleichen Zeitraum wie Produkte verbrauchen, zwanzig Jahre – also solange wie Richelieu oder beinahe wie Bismarck –, das hat etwas Geheimnisvolles. Eine eigenartige Beziehung zwischen einem Mann und einem Volk, das den europäischen Ehrgeiz des Kanzlers auch auf ein europäisches Niveau heben könnte. Ist dies nicht sein heimlicher Wunsch? Ein Deutscher, mit dem sich die Europäer identifizieren können. Ein irrer Traum, ein Ausdruck von Hybris, wie sie nur ein alltäglicher Mensch hervorbringen kann. Wird Kohl im Jahre 2000 für die Europäer das sein, was er zehn Jahre zuvor für die Deutschen war? Sollte die Banalität des Guten doch unwiderstehlich sein?
umph: Oktober 1990. Dieses Mal weht der Atem der Geschichte, denn es sind die ersten Wahlen im vereinigten Deutschland. Der vierte Sieg im Jahre 1994 ist der knappste. Beinahe hätte der Kanzler Churchills Schicksal erleiden können: wegen abgeleisteter Dienste entlassen. Im März 1994 hätte niemand in Deutschland auch nur eine Mark auf seinen Sieg verwettet.
Gewiß, auch Kohl ist ebenso wie Truman nicht unbesiegbar. Er hat während dieser 14 Jahre bei Teilwahlen ständig verloren, Länder und Großstädte fielen in die Hände der Sozialdemokraten. Diesen vielen kleinen Wahlschlappen entsprachen die unheilvollen Meinungsumfragen. Kaum daß Kohl wiedergewählt war, erschien er bei der nächsten Wahl als sicherer Verlierer. Seit vierzehn Jahren erlebt Deutschland die gleiche Politkomödie: Man schmäht den Kanzler, doch im entscheidenden Augenblick traut man sich nicht, sich von ihm loszusagen.
Das nicht enden wollende Wunder ist vor allem das Werk des Kanzlers, der sich nun in der politischen Kochkunst gut auskennt. So zögert er nie mit Gesten, die zwar im Ausland nicht gern gesehen werden, die aber entscheidend dafür sind, daß ihm sein rechter Flügel treu bleibt. Als Katholik, durchdrungen davon, Deutschlands geschichtlichen Wiederaufstieg fortzusetzen, widerstrebt es ihm nicht, in Begleitung von Ronald Reagan den Militärfriedhof von Bitburg zu besuchen, obwohl sich dort auch Gräber der Waffen-SS befinden.
Desgleichen läßt sich der Repräsentant eines bescheiden gewordenen Deutschland nach dem Fall der Mauer mit der De- jure-Anerkennung der Oder- Neiße-Grenze reichlich Zeit, um den Millionen Ostflüchtlingen zu zeigen, daß er nicht durch eine schlichte Gewinn- und-Verlust-Rechnung deren Heimat abschreibt. Dazu kommen noch einige traditionell konservative Ansichten in Sachen Moral – Abtreibung, Religionsunterricht – sowie einige volkstümliche Ausfälle gegen die Intellektuellen, bei Bedarf ein Schuß Demagogie, und schon hat er gewonnen. Auf konservativer Seite zeichnet sich weit und breit kein neues Profil ab. Seine Aufmerksamkeit gilt dem Bündnis mit den Liberalen. Mit einer „Leihstimmenkampagne“ erhält er sie am Leben: So hält er sich seit 1982 im Zentrum bedeckt.
Da der Abstieg der Liberalen von nun an unaufhaltsam scheint, sieht man nun den gleichen Helmut Kohl, der jahrelang gegen die Grünen gefochten hat, wie er mit ebenjenen zu flirten beginnt, wobei ihm dies allerdings durch die zunehmende Verbürgerlichung und gesellschaftliche Einbindung der ehemaligen Protestler erleichtert wird. Wenn also 1998 die FDP die fünf Prozent nicht erreichen sollte, dann könnte der Riese aus Ludwigshafen mit Hilfe der Ökologen über eine Mehrheit verfügen. Müssen nun die Sozialdemokraten so ungeschickt sein und der Kanzler so diabolisch, damit die Hypothese Rot-Grün weniger wahrscheinlich wird als ein Bündnis zwischen Schwarzen und Grünen? Cohn- Bendit als Kohls Minister? Welch schelmischer Schicksalsstreich stünde uns bevor!
Dieser Mann, der zum „Kanzler der Einheit“ wurde, ist durchaus kein Heiliger. Wenn es sein mußte, hat er sicherlich geheuchelt, und zweifellos hat er andere hintergangen, als er zum Beispiel François Mitterrand, aber anscheinend auch Hans-Dietrich Genscher den „Zehn-Punkte-Plan“ verschwieg, mit dem zum erstenmal das Tabu einer Vereinigung der beiden Deutschland aufgehoben wurde. Er ist, als es um die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ging, aus parteipolitischen Gründen hart am Abgrund spaziert, womit er mit seinen westlichen Alliierten das Risiko einer schweren Krise einging. Er hat seinen Kalender mit dem Wahltermin im Kopf geplant, wartete zunächst das Ergebnis der ersten Wahlen in Ostdeutschland ab, um dann abschätzen zu können, ob eine schnelle Vereinigungschance seinen Triumph im Herbst 1990 verbessern würde oder nicht.
Aufrichtig und gelegentlich heuchlerisch; solidarisch und manchmal brutal; dem Anschein nach spontan und in Wirklichkeit ein raffinierter Stratege, gutmütig im Ton und knallhart in seinen Absichten, plump in seiner Haltung und mit einem unglaublichen Gespür für den richtigen Augenblick: Kohl erscheint in diesen Jahren wie ein politisches Wunder. Er überflügelt bei weitem all diejenigen Führer, deren hauptsächliches Verdienst wie bei Truman in ihrer inneren Festigkeit bestand. Sicherlich mußte auch er so entschlossen sein wie sie und noch viel phantasievoller; ebenso unbeugsam und doch beweglicher, ebenso starrköpfig und doch anpassungsfähig. Hut ab, Herr Kanzler!
Kohl versteht sich nun als Kanzler der europäischen Einigung, genauso wie er sich vor fünf Jahren als Kanzler der deutschen Einheit dargestellt hatte. Er hat dies mit einer Bestimmtheit ohnegleichen auf dem letzten Parteitag der CDU bestätigt: Denen, die, wie er sagte, „hinter den Kulissen flüstern“ und am europäischen Engagement seines Landes Zweifel hegen, versichert er, daß „Deutschland keine Alternative hat und den Kurs hält“ und daß „der Aufbau einer starken Union mit einem Wohnrecht für unsere amerikanischen Freunde die einzige Garantie für Frieden und Freiheit in Europa ist“. Das klingt nicht so wie geschliffene Metaphern eines François Mitterrand, aber die Botschaft ist klar.
Der Führer der Christdemokraten ist bei dieser Gelegenheit sogar noch weiter gegangen. Er erinnerte daran, daß einige Jahre zuvor sich niemand einen neuen Balkankrieg hätte vorstellen können, daß auch das Schlimmste immer noch möglich ist und daß sich ohne einen schnellen Aufbau Europas auf längere Sicht zwischen den wichtigsten Ländern des Kontinents ähnlich schlimme Dinge ereignen können. Welcher andere Staatsmann hat sich getraut, solche von Pessimismus geprägten Worte zu gebrauchen, um zukünftige Unwägbarkeiten zu beschwören?
Mit dem Parteijargon ist der Kanzler nicht vertraut, schon gar nicht, wenn es um das Wesentliche geht. Seine Leidenschaft für Europa ist so stark, daß sie Rätsel aufgibt: War es vorstellbar, daß Millionen Fernsehzuschauer diesen politischen Bulldozer, diesen rheinischen Gargantua, weinen sahen, als deutsche Truppen im Rahmen des Eurokorps am 14. Juli 1994 auf den Champs-Élysées defilierten?
Täuschen wir uns nicht: Kohl ist weder ein Heiliger, noch gibt es bei ihm etwas umsonst, und auch gegenüber der öffentlichen Meinung stellt er sich nicht taub. Er wird immer notwendige Garantien einfordern, um im entscheidenden Augenblick garantieren zu können, daß die Einheitswährung genauso stark sein wird wie die Mark. Die anderen, und da vor allem Frankreich, werden auch über die Vereinbarung von Maastricht hinaus einen hohen Preis zahlen müssen. Kohl wird nicht auf einen Spielplan hereinfallen, der zwar vorsieht, daß die Partner seines Landes Anstrengungen unternehmen, um die Kriterien für die Einheitswährung zu erfüllen, dann aber nach getaner Tat wieder in den alten Schlendrian verfallen. Gerecht, selbstsicher, gewachsen durch die Sache, mit der er sich identifiziert, wird er bei den wesentlichen Dingen großzügig und bei den Nebensachen kleinlich sein.
Das ist übrigens eine typische Haltung bei ihm. So zögert er nicht, dem holländischen Ministerpräsidenten Ruud Lubbers den Weg zur Nachfolge von Jacques Delors aus dem einzigen Grund zu verbauen, daß sich dieser bei der deutschen Wiedervereinigung zurückhaltend gezeigt hatte. Ein Mann, der es wagt, sich auf dem internationalen Parkett so rachsüchtig zu geben, ist natürlich auch auf seinem eigenen politischen Terrain ein „Killer“.
Wer sich jemals Kohl entgegenstellte, hat sich davon nie wieder erholt. Wie viele christdemokratische Funktionsträger haben sich nicht in den neuen Ostländern in der Hoffnung festgesetzt, daß sie durch diese Art Missionstätigkeit der Vendetta des Kanzlers entkommen könnten. Kohl kann man bewundern, aber in Sachen Menschenführung ist er kein „Freiherr“. Da er sich nur mit wichtigen Dingen abgibt, gibt er seine schlechten Angewohnheiten an die unteren Ebenen ab. Damit verhält er sich so, wie es für die Großen der Geschichte typisch ist: Waren de Gaulle oder Churchill nicht aus dem gleichen Holz geschnitzt, wenn man sich den Heiligenschein einmal wegdenkt?
Ist Kohl der beste Diplomat Europas? Beherrscht dieser Anti-Talleyrand, Anti-Kissinger, der ebenso verläßlich ist, wie der erstere es kaum war, und der ebenso wenige Konzepte hat wie letzterer, seinesgleichen durch sein Talent, durch seine Erfahrung oder durch sein Gewicht, das ihm sein Land zubilligt? Seit 1990 kann er nicht mehr so tun, als ob es sein hauptsächlicher Triumph sei, unterschätzt zu werden. Nachdem er zuerst mit François Mitterrand und jetzt allein zum Eckpunkt des Westens geworden ist, profitiert er – was bei diesem Tanz der kaltschnäuzigen Ungeheuer, die Staaten sind, sehr selten ist – von einer legitimen Rente.
Welch unglaubliche Entwicklung: Der Führer eines Landes, das sich durch seine Geschichte verdächtig gemacht hat, ist umstandslos das rechtmäßigste aller Mitglieder im Klub der Staatschefs geworden. Noch vor zehn Jahren wurde jeder Vorschlag Kohls immer mit der mißtrauischen Elle gemessen und unter dem negativsten Aspekt aufgenommen. Heute wird seine Wahrheit zum Evangelium und seine Stimme zur reinen Vernunft! Dieser Provinzpolitiker verwandelt sich in ein Symbol kantischer Politik, dieser Antiintellektuelle wird zum Deus ex machina einer ausgeklügelten Diplomatie, dieser vom schlechten Gewissen der Nachkriegsgeneration geprägte Deutsche verwandelt sich in einen Garanten des Friedens, dieser plumpe Demagoge mausert sich zum strengen Schulmeister seiner Landsleute. Die Streiche, welche die Geschichte spielt, haben manchmal etwas Gutes!
Kohl steht nun ganz allein für Deutschland, und er weiß das. In Friedenszeiten ist eine solche Stellung äußerst selten. Kriege bringen eher solche schicksalhaften Situationen hervor, in denen für kurze Zeit ein Mann für ein Land steht: Clemenceau 1917; Churchill 1941. Doch sowie die Völker von ihren Ängsten wieder befreit sind, rächen sie sich so bald wie möglich an diesem Gefühl der Abhängigkeit und treiben die Undankbarkeit so weit, den Helden brutal zu entlassen.
Das Kohl-Wunder besteht darin, solchem Vorbild zu entkommen. Er verkörpert Deutschland, mächtig und bescheiden, patriotisch und europäisch, gemütlich und tüchtig, grobschlächtig und feinfühlig, beherrschend und freundlich, sozial und kapitalistisch und vor allem extrem demokratisch, vielleicht das demokratischste Land Europas, solange man die Demokratie an der Stärke von Macht und Gegenmacht mißt. Er stellt zudem ein Deutschland in Friedenszeiten dar, eine noch viel erstaunlichere Gleichsetzung. Niemand in Deutschland kann ihm heute diese Rolle streitig machen. Nun verkörpert er Deutschland wirklich. Nicht schon seit 1982 – man hatte sich seiner so lange geschämt –, sondern seit 1990. Und wenn er sich 1998 wieder zur Wahl stellt und er, wenn nichts dazwischenkommt, wiedergewählt wird, dann unglaublich lange, bis 2002.
Zwanzig Jahre lang an der Macht, und das in den heutigen hochmediatisierten Demokratien, die Politiker im gleichen Zeitraum wie Produkte verbrauchen, zwanzig Jahre – also solange wie Richelieu oder beinahe wie Bismarck –, das hat etwas Geheimnisvolles. Eine eigenartige Beziehung zwischen einem Mann und einem Volk, das den europäischen Ehrgeiz des Kanzlers auch auf ein europäisches Niveau heben könnte. Ist dies nicht sein heimlicher Wunsch? Ein Deutscher, mit dem sich die Europäer identifizieren können. Ein irrer Traum, ein Ausdruck von Hybris, wie sie nur ein alltäglicher Mensch hervorbringen kann. Wird Kohl im Jahre 2000 für die Europäer das sein, was er zehn Jahre zuvor für die Deutschen war? Sollte die Banalität des Guten doch unwiderstehlich sein?
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