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Mentalitätsintegrator

■ Kohl - ideale Projektionsfigur für kleinbürgerliche Ostler

Angefangen hat es in den späten Sechzigern. Die Schule war aus. Ich lag auf dem Teppich vor dem Fernseher. Ein „Cranach“, „Dürer“ oder „Rembrandt“. Jedenfalls ein Modell aus den Fünfzigern, als man noch glaubte, mit den Dingern irgendeine Form von Kunst in die Wohnstuben tragen zu können.

Inzwischen heißen die Geräte aus dem VEB Staßfurt „Sybille“, „Ines“ oder „Clarissa“. Namen also, bei denen statt des gehobenen Terpentingeruchs die frivole Sehnsucht nach Paris und Hoch das Bein! mitschwang und die wohl auch deshalb heute böse Frauen in deutschen Vorabendserien tragen müssen. Unser Fernseher war aber noch gut, auch wenn sich sein Kanalschalter nur mit einer Rohrzange westwärts drehen ließ.

Da war er also, der Westen. Ein Testbild und der Vermißtensuchdienst des Deutschen Roten Kreuzes: „Gesucht wird Adolf Hitze aus Mittelwalde, Kreis Habelschwerdt in Niederschlesien. Zuletzt gesehen zwischen Breslau und Bunzlau...“ Schlesien, Breslau und Bunzlau. Das klang in meinen stalinistisch indoktrinierten Jungpionierohren fast so gruselig wie Hupka und Czaja oder CDU/CSU. Und ich wußte, wovor ich mich zu fürchten hatte. Schließlich gab es auch die Live-Übertragungen aus dem Deutschen Bundestag.

Ein paar Jahre später lag ich noch immer auf dem Teppich, unser Fernseher hieß jetzt „Chromat“ und der Bundeskanzler Willy Brandt. Der Westen begann irgendwie freundlicher auszusehen. Auch die Opposition. Denn Rainer Candidus Barzel gab einem einfach nicht das Gefühl, als hätte er zwischen Bunzlau und Breslau noch irgend etwas zu suchen. Anders Helmut Kohl. Als der 1976 als Oppositionsführer im Bundestag auftauchte, hatte das häßliche Deutschland endlich wieder ein Gesicht. Da konnte Helmut Schmidt vor laufenden Kameras sein Antlitz voll und ganz mit Schnupftabakkrümeln überziehen, es half nichts. Kohl blieb der Dumme. Es fehlte ihm einfach die Noblesse, und darin glich er unseren Ostblockführern. So registrierte ich dann den Kanzlerwechsel 1982 nicht ohne Häme. Hatte doch jetzt auch der Westen wieder einen Frontmann, dessen er sich schämen durfte. Von Bitburg über die Gnade der späten Geburt bis hin zum Gorbatschow-Goebbels- Vergleich. Nein, mit diesem Mann war kein Staat zu machen, erst recht kein gemeinsamer.

Um so schrecklicher traf es mich, als viele meiner lieben Landsleute, kaum daß die Mauer gefallen war, aber nun genau dies mit ihren „Helmut! Helmut!“-Rufen einzuklagen begannen. Ich habe mich geirrt. Dieses Deutschland war und ist wohl auch noch auf längere Zeit nur mit ihm zu meistern. Es gibt einfach keinen Politiker, der vergleichbar genial die unterschiedlichen Mentalitäten der beiden Teilvölkerschaften in einer, nämlich in seiner Person zu integrieren vermag. All seine scheinbar altbackenen Schrulligkeiten gereichen ihm nun zum Vorteil. Gerade sein hemdsärmeliger Machtwille und die offensichtliche Unfähigkeit, den Normen einer von bourgeoisen Bildungs- und Verhaltensmustern geprägten Gesellschaft zu entsprechen, machen Kohl zur idealen Projektionsfigur für die mehrheitlich kleinbürgerlich sozialisierten Ostler.

Außerdem vermittelt einem seine unangefochtene Kanzlerschaft das beruhigende Gefühl, daß diese bundesdeutsche Demokratie den byzantinisch geprägten Herrschaftsformen der untergegangenen kommunistischen Welt nähersteht, als es das Grundgesetz vermuten läßt. Sicher, hier und da wird gemault, aber im Prinzip ist der Osten glücklich und fürchtet kaum etwas mehr als einen neuerlichen Wechsel, eine Aufgabe des kommoden Status quo. Eine Position, die nur verständlich ist, schaut man auf die angebotenen Alternativen. Nicht nur Rudolf Scharping, auch Gerhard Schröder, der Stalin unter den Sozialdemokraten, hat nicht das Format, das ihn östlich der Elbe fürs verfassungsmäßige Kujonieren prädestiniert.

Wer für eine Currywurst seine Frau verrät, läßt vermutlich Deutschland schon für ein Eisbein hängen. Kohl dagegen ist satt, und das macht ihn verträglich. Und außerdem habe ich inzwischen einen vom Finanzamt als steuerlich absetzbar anerkannten Loewe und ein mit Aufbaumitteln Ost saniertes Landhaus bei Stettin. Mögen andere mosern, ich sage danke! André Meier

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