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Indio- und Gringoland

Guatemala-Stadt, Antigua, Atitlán: Reise durch das touristische Bermudadreieck im zentralamerikanischen Guatemala  ■ Von Werner Mackenbach

Von Managua aus nach Guatemala-Stadt kommend, ist der erste Eindruck die Kälte, die einem entgegenschlägt. Die Stadt erstreckt sich über eine Kette von abgeflachten, von tiefen Einschnitten durchzogenen Bergen auf immerhin 1.500 Meter Höhe. Zweiter Eindruck: Guatemala ist, im Gegensatz zu Managua, eine wirkliche Stadt: Hochhäuser, Avenidas, ein Zentrum, die Plaza Mayor mit dem Regierungspalast und der Kathedrale sowie dem anschließenden Mercado Central. Und das, obwohl die Stadt ähnlich wie Managua in diesem Jahrhundert von mehreren Erdbeben (1917, 1918, 1976) zerstört wurde. Obwohl das letzte vier Jahre später tobte als das in Managua, sind in Guatemala keine Auswirkungen mehr zu sehen. Die Stadt ist heute mit ihren über zwei Millionen Einwohnern das größte urbane Ballungszentrum Zentralamerikas. Dritter Eindruck: die vielen Menschen (vor allem Frauen) in Indiotracht, die das städtische Leben auf den Märkten, Plätzen und den im spanischen Kolonialstil schachbrettartig angelegten Straßen bestimmen. Wie in keiner anderen Stadt Zentralamerikas vermischen sich in Guatemala-Stadt heute noch sichtbar die Kulturen und Lebensweisen der Maya und der spanisch- europäischen Konquistadoren bzw. ihrer Abkömmlinge.

Nur noch Ruinen sind von Kaminaljuyú aus der klassischen Periode der Maya-Kultur im Westen der Stadt übriggeblieben. Die präkolumbische Siedlung fiel weitgehend der Bebauung zum Opfer. Immerhin zeigen die Ruinen, daß an dieser Stelle lange vor der Gründung der Stadt Guatemala im Jahr 1775 ein wichtiges städtisches Zentrum bestanden hatte, das aufgrund der Eroberung durch die Armeen Teotihuacáns (in der Nähe des heutigen Mexiko-Stadt) schon damals eine Mischkultur hervorbrachte.

Als König Karl III. von Spanien am 27. September jenes Jahres die Urkunde zur Gründung von Nueva Guatemala de la Asunción unterzeichnete, glaubte man endlich einen vor Erdbeben sicheren Ort für die Kapitale des Generalkapitanats Guatemala, der spanischen Kolonialverwaltung für Zentralamerika, gefunden zu haben. Zwei Jahre zuvor hatte ein Erdbeben die Hauptstadt der Capitania General, La muy Noble y muy Leal Ciudad de Santiago de los Caballeros de Goathemala, wie das heutige Antigua Guatemala damals hieß, weitgehend zerstört.

Doch nicht nur die seismischen Verwerfungen gehören untrennbar zur Geschichte des Landes. Bis heute durchziehen soziale und kulturelle Erschütterungen und Widersprüche die guatemaltekische Gesellschaft. Kaum jemand scheint von den Vorgängen in der politischen Klasse, die weitgehend von Ladinos bzw. Criollos gebildet wird, Notiz zu nehmen. Zu tief ist der Graben zwischen diesen Vertretern der latinisierten und europäisierten Ober- und Mittelschicht und den größtenteils in Armut oder extremer Armut lebenden und von der Machtausübung weitgehend ausgeschlossenen Indios. Immerhin machen diese weit über die Hälfte der guatemaltekischen Bevölkerung aus. Wenig versprechen sie sich von einem Staatsoberhaupt, das zu deutlich der weißen, europäisierten Oberschicht angehört. Auch wenn Präsident Arzú durch freie Wahlen an die Macht kam.

Um so mehr versprechen sie sich von den Leistungen ihrer Nationalelf. Bei der Copa de Oro des nord-, mittelamerikanischen und karibischen Fußballverbands versammeln sich die Männer vor den Fernsehern in den Kneipen. Bedauerlich, daß der cuadro guatemalteco ausgerechnet gegen den großen Nachbarn und Rivalen Mexiko verliert. Eine Schande gar, daß die Partie um den dritten Platz gegen das Fußballniemandsland USA 0:3 endet. Die Bettler und Obdachlosen, die sich in den Hauseingängen und auf den Bänken des kleinen Platzes an der Calle Real mit Pappkartons, Plastikplanen und alten Decken gegen die Kälte der Nacht zu schützen versuchen, scheint selbst das nicht zu interessieren.

Gegen diese rauhe Wirklichkeit wirkt Antigua Guatemala auf den Reisenden wie eine harmonische Insel. Trotz der zahllosen Erdbeben, Feuersbrünste und Überschwemmungen, die die Stadt im Laufe ihrer Geschichte heimsuchten, haben viele Bauwerke überlebt. Zumindest blieben sie so weit erhalten, daß sie partiell restauriert werden konnten. Zwar steht von dem ehemaligen Regierungssitz der Capitania General, dem Palacio de los Capitanes an der Südseite des Parque Central im heutigen Antigua, nur noch die Fassade. Aber zusammen mit der ebenfalls nur noch teilweise erhaltenen Catedral de Santiago an der Ostseite und dem Palacio del Ayuntamiento an der Nordseite sowie der bereits 1676 gegründeten Universidad de San Carlos in der östlichen Verlängerung des Palastes ergibt dieses Ensemble immer noch einen architektonischen Eindruck von der Stärke der spanischen Kolonialmacht in Zentralamerika.

Heute ergreifen ganz andere Konquistadoren Besitz von der Stadt: die unzähligen ausländischen Touristen, die eine zunehmende „Verdrosselgasselung“ mit sich bringen. Die vielen Hauptstädter, die am Wochenende die engen Straßen verstopfen, und vor allem die Teilnehmer der Sprachkurse der zahllosen Sprachschulen, die sich über die ganze Stadt verteilen. Ein Spanischkurs in Antigua scheint nicht nur für deutsche Alternativtouristen heute zum Modetrend geworden zu sein. In der Tat: Die Klarheit des hier gesprochenen Spanischs prädestiniert einen Ort wie Antigua geradezu zu einem solchen Boom.

Eine idyllische Kleinstadt, eine der ältesten Lateinamerikas, eingebettet in eine der schönsten Landschaften des Kontinents, umgeben von den drei Vulkanen Agua, Fuego und Acatenango. Ausflug nach Chichicastenango, etwa drei Stunden Busfahrt von Antigua entfernt. Das Indiodorf, zu dem wir auf unserem Weg zum dritten Eckpunkt des guatemaltekischen „Bermudadreiecks“, dem Atitlán-See, einen Abstecher machen, muß man donnerstags oder sonntags (an den Markttagen) besuchen, so war es überall zu lesen. In der Tat, das auf 2.030 Meter Höhe liegende Bergdorf mit seinen 8.000 Einwohnern wird dominiert von dem Markt auf dem großen Platz im Zentrum. Überall an den Ständen und in den engen Marktgassen leuchten die handgewebten und bestickten Stoffe. Mehr als 300 verschiedene Trachten wurden bisher in ganz Guatemala registriert. Über Jahrhunderte hinweg hatte jedes Dorf seine eigenen Trachten, jeweils verschieden für die unterschiedlichen Zwecke: religiöse Zeremonien, Hochzeit, Beerdigung... An den Mustern und der Art, wie sie getragen wurden, konnte man ablesen, ob eine Person verheiratet war, wie viele Kinder sie hatte, aus welcher sozialen Schicht sie stammte. Ein buntes Farbenmeer, das scharf mit dem stechenden Weiß der beiden Kirchen im Mittagslicht der Sonne an den Stirnseiten des Marktes kontrastiert.

Auf deren Stufen schwenken einheimische Prediger die chuchkajaues, durchlöcherte Blechbüchsen mit Weihrauchfeuer, und murmeln Gebetsformeln. In den Rauchschwaden des Feuers aus copal-Harz sitzen Rucksacktouristen und verspätete Hippies. Noch immer existieren in Chichicastenango zahlreiche religiöse Bruderschaften, die cofradias, die ihre aus einer Mischung von präkolumbischen und christlichen Glaubensvorstellungen geprägten Rituale zelebrieren. In der Kirche Santo Tomás kniet eine India vor einem Holzgestell. Sie stellt Kerzen auf und legt Blätter in einer bestimmten Ordnung auf das Gestell, dazu Beschwörungsformeln in einer der zahlreichen Indiosprachen murmelnd. Wie die religiösen Riten haben sich hier die alten Ansprachen als Kommunikationsmittel der Bevölkerung erhalten. Und wenn auch die Touristen im klarsten Spanisch zum Kauf animiert werden, die Gespräche der Händler wie der einheimischen Bevölkerung – ob jung oder alt – finden in ihrer überlieferten Sprache statt.

In diesem Beharren auf den eigenen Traditionen und den Sprachen der Vorfahren lebt noch etwas von dem kämpferischen Geist fort, mit dem die Ureinwohner des Ortes, die cakchiqueles, den spanischen Konquistadoren begegneten. Noch immer wirkt Chichicastenango dort auf dem Berg wie eine Trutzburg. Nur mit Mühe schlängelt sich der Bus durch das tiefe Tal kurz vor dem Ort, von dessen Straße man einen schönen Ausblick hat. Auch im Versuch, die Touristen mit unverschämt hohen Preisen für die bunten Stoffe kräftig übers Ohr zu hauen, mag sich noch etwas von der Abwehr gegen den fremden Eindringling tradieren.

Doch auch dieser Kampf gegen die neuen Eindringlinge scheint bereits verloren. Symbol dafür ist das in allen Details exzellent restaurierte Hotel und Restaurant Mayan Inn wenige Schritte hinter dem Markt, wo man am Kamin vorzüglich speisen kann – in einem Ambiente, das einen direkt nach Kastilien zu versetzen scheint, bedient von Kellnern in alter spanischer Tracht. In dieser neuen Trutzburg mitten im Indiohochland Guatemalas, die zu einem US- Konzern gehört, verkörpert sich der immer stärker werdende ausländische Einfluß, der die eigenen kulturellen Traditionen verdrängt. Wie die Marimba-Gruppe im Innenhof des Hotels ist der Markt mit seinem bunten Treiben nicht mehr als nettes folkloristisches Beiwerk. Die harte Realität der Lebensbedingungen, die sich dahinter verbirgt, bleibt außerhalb des touristischen Erfahrungshorizonts.

In Panajachel am Lago de Atitlán, der letzten Station auf unserer Reise im touristischen Bermudadreieck Guatemalas, ist dieser Überlagerungsprozeß bereits unumkehrbar geworden. Nicht von ungefähr wird es von den guates selbst „Gringolandia“ genannt. Zwar ist es bisher bei den drei Hochhäusern am Rande der Stadt geblieben, die offensichtlich als Hotels geplant waren, jetzt jedoch anscheinend leer stehen und langsam verfallen. Sollte der Ort jemals so etwas wie einen eigenen Charakter gehabt haben, so ist davon nichts mehr zu erkennen. Der touristische Wildwuchs macht ihn zum uninteressantesten Eckpunkt unserer Reise.

Aber da ist die Landschaft: Von Chichicastenango kommend, fährt man über Sololá (quer über den belebten Markt) in einer 8 Kilometer langen, sich am Fels über eine Differenz von 500 Metern windenden engen Straße hinunter an den See. Die Sicht auf das Wasser sowie die drei Vulkane San Pedro (2.995 m), Atitlán (3.537 m) und Tolimán (3.158 m) auf der Südseite des Sees bietet ein Panorama, das selbst in Zentralamerika mit seinen zahlreichen Vulkanen einmalig ist. Auch der See selbst ist ein eingestürzter Vulkankrater von über 320 Meter Tiefe, der bereits direkt am Ufer steil abfällt.

Regelmäßig gegen Abend, wenn der Xocomil, der Südostwind, den See aufwühlt, trifft sich dort ein Häuflein Unentwegter. Im „Sunset Café“, direkt am Ende der Hauptstraße Panajachels zum See, spielt „Marco Solo“, unüberseh- und -hörbar aus Nordamerika, Gitarre und singt die Songs aus den „guten alten Tagen“ der Hippie- und Beatnik-Generation. Die Szenerie hat etwas Anachronistisches: Touristen im mittleren Alter (überwiegend aus den USA), die die Stätten ihrer Jugend „auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ besuchen, vermischen sich mit jungen, die ihre Töchter und Söhne sein könnten, auf den Spuren ihrer Eltern – die Augen fest auf die hinter den Vulkanen untergehende Sonne in ihrem Blutorange gerichtet, der Blick seltsam versonnen.

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