: Permanent bespien
■ Read Me: Burkhard Müller-Ullrich erzählt schaurige "Medienmärchen"
Todd Leventhal in Washington hat einen einzigartigen Job. Angestellt bei der US Information Agency untersucht er seit zehn Jahren Herkunft und Verbreitung der Legende vom organisierten Organklau. So geisterte jahrelang ein zehnjähriger Kolumbianer durch die Weltpresse, dem verbrecherische Ärzte angeblich die Augen herausoperiert hatten. Eine Geschichte, wie geschaffen für die mediale Mythenmaschine.
Nachdem die Gruselstory einmal in der Welt war, interessierte sich niemand mehr für deren Wahrheitsgehalt. Irgendwann wurde der französischen Journalistin Marie-Monique Robin für die tränenreiche Räuberpistole sogar der renommierte „Prix Albert Londress“ verliehen. Zu einer Zeit, als die Netzhautsaga schon längst als „journalistischer Humbug widerlegt“ war, wie Burkhard Müller-Ullrich anmerkt, der in Kolumbien auf die Spur einer ganz anderen Geschichte geriet: Tatsächlich sei der Junge im frühen Kindesalter durch eine Augeninfektion erblindet und nicht etwa, weil ihn Gangster als Ersatzteillager mißbrauchten.
Da es in Deutschland keine Agentur zur Aufdeckung von Fehlinformationen gibt, hat sich der 40jährige Journalist praktisch selbst als Ombudsmann eingestellt. „Wir werden bespien mit Behauptungen, die keiner überprüft hat noch überprüfen kann und die sich, wenn man mit dem Fingernagel des Durchschnittsverstands daran kratzt, in Schall und Rauch auflösen“, schreibt er im Vorwort und verspricht, einige besonders „fette Enten zu schlachten“.
Und schon geht's los – mit Halali durch den Blätterwald, in dessen Dickicht Müller-Ullrich sogleich die „falsche Märtyrerin“ Taslima Nasrin aufstöbert. Die Schriftstellerin habe sich ihr Heimatland Bangladesch zu einer „Mischung aus Ruanda und dem Iran“ umgelogen und damit die deutsche „Menschenrechtsmaschine“ in Gang gebracht. An deren Hebeln wähnt der Wahrheitsfahnder die „Solidaritäter“ von Spiegel, Zeit und Agenturen, bei denen im „Taslima-Taumel“ wieder einmal „Kenntnislosigkeit und Kampfgeist, Einäugigkeit und Edelmut Hand in Hand“ gegangen seien.
Einmal im Wahrheitstaumel, verliert Müller-Ullrich dann aber selbst die Contenance, denunziert Taslima Nasrin schlichtweg als „Asylantin von geistigem Kleinformat“ und relativiert die Todesdrohungen mit hausgemachter Völkerkunde: „Daß sie [die Bewohner Bangladeschs, Anm. d. R.] von ihrem Naturell her friedlich und phlegmatisch sind, ist ein Eindruck, den jeder Besucher gewinnt.“ Am liebsten würde er die unbegabte Autorin wohl persönlich wieder abschieben.
Dorthin, „wo sich die imposanten Demonstrationszüge, mit denen sich die Fundamentalisten gern in Szene setzen, durch Radau gleichermaßen wie durch relative Folgenlosigkeit auszeichnen“. Also alles halb so schlimm ist. Stell dir vor, es ist Fatwa, und keiner macht mit.
Jeder Autor möchte gern verfolgt sein
Abgesehen von derlei zynischem Holzfällertum liefert Müller-Ullrich handfeste Entzauberung. Egal, ob Waldsterben („Holzweg“), Tschernobyl („Der Medien-GAU“) oder die Revolution in Rumänien („Massaker-Gier“) – treffsicher diagnostiziert er die Pawlowschen Reflexe, mit denen Journalisten auf bestimmte Themen- und Personenkreise reagieren.
Zum Beispiel auf Minderheiten oder besser: einer Schnittmenge aus mehreren davon. Wie im Falle des farbigen US-Journalisten Abu Jamal, der einem schon am Boden liegenden Polizisten mit fünf Kugeln aus nächster Nähe den Rest gab und dafür zum Tode verurteilt wurde. Zum Trost ernannte die Berliner Sektion der IG Medien den Mörder zum Ehrenpräsidenten. „Eine tiefe Genugtuung, vom Redaktionspult aus Unrecht anzuprangern“, attestiert Müller-Ullrich den Kollegen. Insgeheim sehne sich wohl jeder Autor danach, so bedeutend zu sein, daß er verfolgt wird.
Fast scheint es so, als treibe den Nestbeschmutzer eine ähnliche Sehnsucht, so schonungslos wie er all jenen in die Suppe spuckt, die Besinnung durch Gesinnung ersetzt haben. Den Demonstranten, die nach dem Brand in Lübeck in „Lichterkettenhaltung“ auf die Straße gingen oder jene Journalisten, die eine Handvoll Skinheads auch ohne Beweise schuldig sprachen. Doch bei aller Ernsthaftigkeit fügt Müller-Ullrich seine Fallbeispiele auf amüsante Weise zu einem schaurig-schönen Unsittengemälde des deutschen Journalismus zusammen.
Schade nur, daß er in puncto Ursachenforschung nicht eine ähnliche Gründlichkeit walten läßt wie in den Kapiteln zuvor. „Alles Veröffentlichte wird immer dümmer, weil es von immer jüngeren Autoren stammt“, mahnt er oberlehrerhaft, als hätten die ganzen Enten in seinem Buch nur die jüngeren Kollegen verzapft. Sollte dem tatsächlich so sein, wäre es um so unverständlicher, warum er dieser sorglosen Generation auch noch sein eigenes Feld überläßt. Vom nächsten Jahr an verläßt Müller-Ullrich seinen Wachturm und wird leitender Redakteur der Sendung „Kultur heute“ im Deutschlandfunk. Da bleibt für Märchen wenig Zeit. Oliver Gehrs
Burkhard Müller-Ullrich: „Medienmärchen. Gesinnungstäter im Journalismus“. Blessing Verlag 1996, 256 Seiten, 36,80 DM
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