: Den Koran aus dem Gefängnis befreien
Abu Said gilt den ägyptischen Fundamentalisten als Lügner, Ketzer und Verleumder. Als Apostat wurde er von seiner Frau zwangsgeschieden. Er selbst aber verehrt den Koran. Seine Thesen sind jetzt endlich übersetzt ■ Von Susanne Enderwitz
Der Äypter Nasr Hamid Abu Said ist in Deutschland kein Unbekannter. Die mit seinem Namen verknüpfte „Affäre“ sorgte auch hier für Schlagzeilen. Er wurde wegen seiner textkritischen Untersuchungen des Koran als Ketzer, Apostat und Feind des Islam gebrandmarkt und im Juni 1995 zu einer Zwangsscheidung von seiner Frau verurteilt, weil ein Glaubensabtrünniger nicht mit einer Muslimin verheiratet sein könne. Nach verschiedenen Berufungsverfahren wurde das Urteil im September nun zwar nicht aufgeoben, darf aber nicht ausgeführt werden.
Abu Said hält sich selbst keineswegs für einen Apostaten, ganz im Gegenteil: „Ich verehre den Koran“, sagte er in einem Interview, „mehr als alle Orthodoxen. Die Orthodoxen beschränken ihn auf die Rolle des Gebietens und Verbietens. Dabei ist er ein Text, der produktiv war für die Künste. Die bildenden Künste entstanden aus dem koranischen Text, denn die wichtigste Kunst ist die Kunst der Kalligraphie. Die vokalen Künste entstanden aus der Kunst der Koranrezitation – alle klassischen Sänger in der arabischen Kultur begannen zunächst mit der Koranrezitation. Wie wurde diese Vielfalt an Bedeutungen und Hinweisen umgewandelt, diese Präsenz auf allen Ebenen? (...) Wieviel bleibt verborgen durch die Beschränkung auf Gebieten und Verbieten! (...) Ich möchte den Koran aus diesem Gefängnis herausholen, damit er wieder produktiv ist für die Essenz der Kultur und der Künste, die in unserer Gesellschaft erwürgt wurden.“
Mit diesem Zitat ist Abu Saids Ziel bereits umrissen. Für ihn ist die arabisch-islamische Kultur im wesentlichen eine Kultur des Textes, in deren Mittelpunkt der Koran steht. Will man die Kultur erneuern, ist vor allem ein neues, hermeneutisches Verständnis des offenbarten Textes gefordert. Dieses Verständnis stellt sowohl die historische Beziehung zwischen Offenbarung und gesellschaftlicher Wirklichkeit als auch das Verhältnis zwischen Offenbarung und zeitgebundenem Interpret in Rechnung. Es betrachtet den Kontext der Offenbarung als konstitutiv für ihre Zugänglichkeit, nicht nur im Hinblick auf ihre Wortwerdung selbst, sondern auch auf ihre Interpretation in der Geschichte.
Um den Koran zu verstehen, muß man zunächst allen Ballast abwerfen, die Tradition, die sekundären Texte des Mittelalters, die im Lauf der Zeit von der – falschen – Aura des Heiligen umgeben wurden und ihrerseits doch nur diverse ideologische Positionen markieren. Hier trifft sich Abu Said übrigens mit dem Islamwissenschaftler Mohammed Arkoun, aber er geht noch weiter. Er fordert nämlich eine Wiederaufnahme der Kritik der Überlieferungen Mohammeds, des Hadith, weil die lange Zeitspanne zwischen dem Leben des Propheten und seiner Aufzeichnung zu zahlreichen Verfälschungen geführt habe.
So bleibt vorläufig nur der Koran als unzweifelhaft authentischer Text, der zwar göttlichen Ursprungs ist, der jedoch auch in der Zeit und in einer natürlichen Sprache – dem Arabischen – offenbart wurde und sich daher wie jeder literarische Text der Literaturwissenschaft darbietet. In Anschluß an den russischen Semiotiker Jurij Lotman versteht Abu Said den Koran als eine Botschaft, die eine Kommunikation zwischen einem Sender (Gott) und einem Empfänger (Mohammed und die Menschen) stiftet. Der Koran ist ein Zeichensystem mit einem eigenen Code, das sowohl auf diesen selbst wie auf seine Entschlüsselung durch den jeweiligen Empfänger hin untersucht werden muß.
Dabei kommt den unterschiedlichen Teilen des Koran aus moderner Sicht auch eine unterschiedliche Bedeutung zu. Ein Teil des Koran ist für uns Heutige nurmehr historisches Zeugnis, gemünzt auf die Zeit seiner Entstehung, wie etwa die koranischen Aussagen über die Sklaverei. Ein anderer Teil, von den frühen Muslimen als Realität verstanden, hat für uns nurmehr metaphorische Bedeutung, etwa die Vorstellung von Gott auf einem von den Engeln getragenen Thron. Ein dritter Teil trägt einen verborgenen Sinn, der durch Analogie ans Licht gebracht werden kann; als Beispiel nennt Abu Said die koranische Wertung der Frau als halben Mann im Erbrecht und im Zeugenstand, die, gemessen am Vorislam, zu ihrer Zeit fortschrittlich gewesen sei und heute zur vollen Gleichberechtigung auffordere.
„Was ich sage, ist nicht neu“, erklärte Abu Said selbst in einem Interview. „Ich bin mit keinem Erkenntniswunder gekommen – es war die Umwelt und das Klima und der Versuch, die Religion politisch zu instrumentalisieren, die daraus so etwas gemacht haben.“ Tatsächlich versteht man die politische Dimension der „Affäre Abu Said“ erst, wenn man sich seine „Kritik des religiösen Diskurses“ von 1992 betrachtet, ein Buch, das jüngst mit dem Obertitel „Islam und Politik“ auch auf deutsch herauskam. Bereits die ersten Sätze geben die Richtung an: „Gegenstand dieser Untersuchung ist der religiöse Diskurs in seiner Gesamtheit, ohne allerdings die Unterscheidung zwischen radikal und gemäßigt zu berücksichtigen, hat diese auch ihren festen Platz in den Medien. Der Unterschied zwischen diesen beiden Formen ist ein quantitativer und kein qualitativer. Bei einer wissenschaftlichen Untersuchung werden keine Unterschiede zwischen beiden sowohl in bezug auf die theoretischen Grundlagen als auch die Mechanismen entdeckt.“
Im Klartext bedeutet Abu Saids Kritik am religiösen Diskurs, daß er keinen grundlegenden Unterschied zwischen den radikalen Islamisten und den sogenannten Gemäßigten macht, die im Auftrag der staatlichen Religionspolitik die Medien bevölkern. Seine Darlegung der strukturellen Ähnlichkeiten zwischen dem Denken der religiösen Extremisten und der regierungsnahen Gemäßigten eröffnet das Buch. Ihr folgt eine Auseinandersetzung mit der „islamischen Linken“, vertreten vor allem durch Hasan Hanafi, einen früheren Lehrer Abu Saids. In einem dritten und letzten Kapitel greift Abu Said seine schon früher geäußerten Überlegungen zur adäquaten Koraninterpretation in neuer Formulierung auf. Ergänzt wird sein Text durch ein längeres Vorwort von Navid Kermani über die Person, die Schriften und die „Affäre“ Abu Said.
Abu Saids Denken ist nicht frei von Widersprüchen, die sich manchmal wie eine Scheu vor zu großen Tabubrüchen ausnehmen. Sie betreffen zum Beispiel seine Aufrechterhaltung des Dogmas von der „Unnachahmlichkeit“ des Koran, obwohl er den Koran ansonsten mit jedem anderen literarischen Text gleichsetzt, seine Suche nach einem „objektiven“ Verständnis des Islam, ohne den hermeneutischen Zirkel als Problem zu sehen, und seine Bezeichnung des Hadith als „beinahe menschliche(r) Text“, obwohl er eigentlich eine radikale Hadithkritik anstrebt. Auch erschließen sich Abu Saids Arbeiten besonders dem westlichen Leser nicht ohne weiteres, wie bereits das Vorwort vorsichtigerweise feststellt. Sie richten sich klar an eine arabische Leserschaft und setzen häufig Informationen voraus, die dem hiesigen Leser die knappen Anmerkungen nicht immer liefern. Schließlich merkt man der Übersetzung die Mühe im Umgang mit dem Text an, die manchmal zu umständlichen Formulierungen führt. Sie bleibt aber eine echte Pioniertat, da bisher kein arabisches Buch mit einer so dezidierten wissenschaftlichen Terminologie besetzt wurde.
Trotz, zum Teil sogar wegen der gemachten Einschränkungen möchte ich das Buch all jenen dringend empfehlen, die sich für Ägypten und/oder den Islamismus interessieren. Als Dokument einer klaren Parteinahme in der ägyptischen Debatte um Islam und Demokratie, und dies auf der Basis einer großen Vertrautheit mit den arabisch-islamischen Geisteswissenschaften, kann es unzweifelhaft einen Anspruch auf Lebendigkeit und „Authentizität“ erheben. KeinE westlicheR IslamwissenschaftlerIn würde, wie Abu Said, sich in der islamischen Geschichte der ersten Jahrhunderte Verbündete für seine eigene Haltung suchen, eine derartig engagierte Argumentation aufbauen und immer schon die möglichen islamistischen Einwände vorwegnehmen.
Nasr Hamid Abu Said: „Islam und Politik. Kritik des religiösen Diskurses“. Übersetzt von Cherifa Magdi. dipa-Verlag, Frankfurt/M., 1996. 223 Seiten, 36DM
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