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Mißtrauen, Neid und üble Nachrede

Seit Boris Jelzins Auszeit wird im Kreml um die Macht gekämpft. Besonders Stabschef Tschubais erweist sich als gewiefter Taktiker. Doch der könnte den Bogen überspannen  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Gestern, um sieben Uhr Moskauer Zeit, kam Boris Jelzin unters Messer. Währenddessen übertrug ein Rundfunksender eine kurze Stellungnahme des russischen Präsidenten. Er dankte dem Volk für die Unterstützung und versicherte, ein Machtvakuum bräuchte es nicht zu fürchten. Dafür sorgt schon sein umtriebiger Stabschef Anatoli Tschubais. „Damit die Gesellschaft demokratisch sein kann, muß das Innere der Macht diktatorisch geführt werden“, verkündete er kürzlich. Alles andere führe direkt ins Chaos. Wäre Tschubais nicht der ehemalige Privatisierungsminister und Vorzeigedemokrat der ersten Generation, sein Bekenntnis zu rigiderem Führungsstil hätte ihm wohl Beifall aus den verschiedenen politischen Lagern eingebracht.

Seit der 41jährige im Juli Präsident Jelzin noch einmal zum Wahlsieg verholfen hat und ins Zentrum der Macht zurückkehrte, begleiten ihn Mißtrauen, Neid und üble Nachrede. „Wer führt das Land?“ fragte die Wochenzeitung Kommersant vergangene Woche mehrere Dutzend Meinungsmacher. Die Antwort war einhellig: Anatoli Tschubais, die graue Eminenz, die die anhaltende Unpäßlichkeit ihres Dienstherren nutzt, um die eigene Machtbasis auszubauen. Im Oktober manövrierte er Sicherheitsratsekretär Alexander Lebed ins politische Aus. Mit dessen Hilfe hatte er im Sommer noch seinen erbitterten Widersacher, den Chef der Präsidentengarde und langjährigen Jelzin-Intimus, Alexander Korschakow, ausgeschaltet.

Koalitionen in Moskau sind derzeit von geringer Haltbarkeit. Tschubais Führungsstil, Organisationstalent, Disziplin und eiserner Wille flößen Gegnern wie Mitstreitern Furcht und Respekt ein. Seine Effektivität, die er als Exekutor des gigantischen Privatisierungsprojekts unter Beweis gestellt hat, trifft man in Rußland nicht allzuhäufig an. Ihm eilt der Ruf voraus, ein mit Phantasie begabter Technokrat zu sein, der sich nicht von Emotionen leiten läßt. Was heute gesagt wird, so ein enger Vertrauter, werde spätestens übermorgen in die Tat umgesetzt.

Als Tschubais im Juli die Leitung des Stabes übernahm, geriet er zunächst mit Premierminister Wiktor Tschernomyrdin aneinander. Tschubais versuchte, wirtschaftliche Kompetenzen aus der Regierung abzuziehen und im Präsidentenapparat zu bündeln. Außerdem überschattete eine alte Rivalität aus gemeinsamer Regierungsarbeit das Verhältnis. Tschubais soll damals dem Premier des öfteren zu verstehen gegeben haben, wer in Wirtschaftsbelangen der Versiertere ist. Nach anfänglichen Zwistigkeiten ist dieser Streit beigelegt. Zur Zeit ziehen beide am gleichen Strick.

Gerüchte über Affären machen die Runde

Tschernomyrdin spricht es nicht aus, doch für den Fall vorgezogener Präsidentschaftswahlen möchte er die Nachfolge Boris Jelzins antreten. Kann er es sich erlauben, auf einen so talentierten und effizienten Organisator wie den Stabschef zu verzichten? Zumal Tschubais Realist genug ist, um zu wissen, daß er sich keine Hoffnungen auf das höchste Staatsamt zu machen braucht. Seine Gegner rekrutieren sich nicht allein aus den Verlierern der Privatisierung, schon sein Auftreten und Intellekt lassen ihn suspekt erscheinen. Im bäuerlich geprägten Rußland schätzt man den „Muschik“ aus der fernen Provinz mit gelegentlichem Drang zur Flasche mehr als einen nüchternen Managertyp westlichen Zuschnitts. Nun hat es so einer in wenigen Wochen an die Spitze der Macht geschafft.

Dabei kann es nicht allein mit rechten Dingen zugegangen sein. So macht das Gerücht die Runde, Tschubais habe sich durch eine Liaison mit Jelzins jüngerer Tochter Tatjana Djatschenko die Gunst des Präsidenten erschlichen. Seit Februar arbeiteten Tatjana und Tschubais im Wahlkampfstab zusammen. Die Tochter sieht ihren Vater regelmäßig und genießt dessen volles Vertrauen. Tschubais habe seine Frau zugunsten der Präsidententochter verlassen, die nun dem Kranken seinen Willen souffliere. Die Liebesgeschichte erwies sich indes als nicht haltbar und wurde sogleich durch eine Variation zum gleichen Thema ersetzt. Nun war es die ältere Tochter, ein Mauerblümchen, derer er sich angenommen habe...

Böse und mißgünstige Zungen werden auch weiter ihr Unwesen treiben. Unterdessen scheint der Stabschef sich in seiner Rolle nicht nur zu gefallen, er fordert Widerspruch und Ablehnung geradezu heraus. Als wolle er die Grenzen des Erlaubten und Machbaren austesten. Die Ernennung des Geschäftsmannes Boris Beresowskij zum stellvertretenden Sekretär des Sicherheitsrates ließ vergangene Woche Emotionen hochschlagen. Beresowskij wird sich im Sicherheitsrat mit Tschetschenien beschäftigen. Der Protest macht sich an der geschäftlichen Vergangenheit des Sekretärs fest, dessen kaufmännisches Geschick ihm nicht allein zu Geld und Einfluß verholfen haben soll.

Beresowskij hält 16 Prozent der Aktien des staatlichen Fernsehsenders ORT. Als stellvertretender Direktor legt er die Inhalte fest. Darüber hinaus ist der promovierte Wirtschaftswissenschaftler noch Chef des Moskauer Automobilkonzerns Logo VAZ. Sein Leumund war in der Tat nicht der beste, ohne daß Beweise vorgebracht worden wären. Sieht man einmal ab von einem Attentat vor zwei Jahren, das er nur durch Glück überlebte.

Selbst die eher liberale Iswestija versuchte, den Sekretär zu demontieren. Auf abstoßende Weise lancierte sie die Vermutung, Beresowskij sei im Besitz zweier Staatsbürgerschaften: der Rußlands und der Israels. Wie könne er also russische Sicherheitsinteressen vertreten? Die Absicht ist klar, antisemitische Stimmungen müssen wettmachen, was Strafverfolgungsbehörden an Beweisen schuldig bleiben. Tschubais hätte die Reaktion erahnen können.

Neue Nomenklatura mit unerhörten Privilegien

Zumal man ohnehin in Moskau mit Mißtrauen verfolgt, wie Finanzmagnate allmählich die Macht usurpieren. Beresowskij gehört zu jenen sieben, Industriellen und Bankkapitänen, die den Wahlkampf Boris Jelzins finanzierten. Als Gegenleistung schickten sie schon im August Bankier Wladimir Potanin in der Funktion eines stellvertretenden Vizepremiers in die Regierung. Beresowskij macht aus ihrem Einfluß keinen Hehl. Im Gegenteil, in beinah an Dummheit grenzender Offenheit plauderte er über ihre konzertierte Aktion.

„Appetit kommt beim Essen“, warnte Menschenrechtler Sergej Kowaljow, der bereits eine neue Nomenklatura entstehen sieht, die unerhörte Privilegien genießt und sich keinen Regeln unterwirft. Antikapitalistischen und antisemitischen Ressentiments leistet Tschubais mit solchen Praktiken Vorschub. Kann er das wollen? Muß er die Opposition aus Kommunisten und Chauvinisten bis aufs Messer reizen? Es scheint, als sehe Tschubais die Chance, Marktwirtschaft und Demokratie unumkehrbar festzuzurren, nun unmittelbar vor Augen. Die Absenz des Präsidenten kommt ihm wie gerufen. Bei der Auswahl seiner Mitstreiter gab er sich seit längerem nicht zimperlich. Mittlerweile ist ihm jedes Mittel recht, um das Ziel zu erreichen. Doch läuft er Gefahr, den Bogen zu überspannen.

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