: Sprache als Rettungsanker
■ Ohrenzeugen privater Verzweiflung: Das Deutschlandradio produzierte eine Hörspielfassung der Tagebücher von Victor Klemperer mit Udo Samel als Sprecher (9. bis 14. November, täglich 18.35 Uhr)
Als im vergangenen Herbst Victor Klemperers Aufzeichnungen aus Nazideutschland erschienen, wurden sie zum Verkaufshit. Eine siebentägige Mammutlesung der Tagebücher von 1933–1945 an den Münchner Kammerspielen zog zehntausend Leute an, und der Name Klemperer verschwand auch übers letzte Jahr hinweg nicht aus dem Kulturbetrieb.
Warum dieser große Erfolg? Skeptiker vermuteten dahinter den deutschen Betroffenheitsreflex. Andere sahen in Klemperers detaillierten Aperçus das Gegengift zu Daniel Goldhagens Generalisierungsgeste. Beides ist wohl falsch. Denn schon das erste Reinhören in die nun in Hörspielfassung vorliegenden Außen- und Selbstbeobachtungen Klemperers während der Zeit des Faschismus bewirkt ein pures Interesse an der Geschichte dieses Mannes, dem ein verbrecherischer Staat das Leben Schritt für Schritt zur Hölle machte. Klemperer schreibt aus einer Perspektive, die alles zuläßt, was in ihrem Blickfeld auftaucht und auf diese Weise ein Gedanken- und Gefühlsarchiv erstellt.
Klemperer spricht oft von seinem Ekel über das, was geschieht. Im Hörspiel wird dieser Ekel als abstrakt unangenehmes Drohgeräusch umgesetzt. Man kennt diese Anziehungskraft des Ekelhaften (nicht des Sensationellen), die den Blick wie magnetisch festhält – sosehr man auch wegschauen – oder weghören – will. Auch wenn dem Autor beim Lesen der gleichgeschalteten Presse jedesmal übel wird, zwingt er sich dazu. Denn: „man muß wenigstens wissen, was gelogen wird“. Klemperers Sprache ist sachlich kühl, doch gleichzeitig blitzt auch die Verletztheit dessen durch, der aus dem Elfenbeinturm der Universität verjagt wurde. Er fühlt sich leidenschaftlich als kultureller Deutscher, beklagt die tägliche Naziverdummung als „undeutsch“ und notiert eher schmerzlich, daß er gezwungenermaßen zum voltaireschen Kosmopoliten wird.
Vor den Brüchen in Klemperers Befindlichkeit stehen wir heute durchaus auch kopfschüttelnd. Warum ist er nicht geflohen, wo er von Anfang an das Schlimme kommen sah und spätestens 1935 feststellt, daß fast alle Klemperers im Ausland sind? Doch während sich vor unseren Ohren Schritt für Schritt ein vielschichtiges Puzzle zusammensetzt, erspüren wir auch etwas von Klemperers Erfahrung. Auch wenn er über seine Haft schrieb, „daß wir gar nichts wissen, außer dem unmittelbar selbst Erlebten“. Doch das zum Klischee heruntergekommene Wissen über die kleinen Hilfen von „guten Deutschen“ und die immer größer werdende Bedrohung erreicht hier noch einmal Lebensgröße.
Aber wir hören nicht nur dem Sammler beim Sammeln zu. Wir sind auch Ohrenzeugen seiner privaten Verzweiflung und der teils geglückten Verdrängung. Und hören, wie er sich an den Banalitäten des Alltags entlanghangelt. Haus und Garten, die beiden Kater, der mühsam erkämpfte Führerschein nehmen ihn streckenweise ganz in Anspruch. Dann kommt das Hin und Her mit dem Wagen, der – bis er entzogen wird – kleine Freiheiten bringt. „Auto, Auto über alles“, witzelt Klemperer.
Klemperers Festhalten am Schreiben der Chronik, das mit zunehmender Schikane und Bedrohung nur noch zäher wird, ist immer wieder als eigentlich unbegreiflich bewundert worden. Er bezeichnet diese Tätigkeit als „Balancierstab“. Egal wie tief er im steigenden Sand sitzt: Sprache und Wahrnehmung bleiben die Rettungsanker. Der Trost alltäglicher Banalitäten sitzt ebenso tief wie der immer wieder aufflackernde, kaum mehr nachvollziehbare Optimismus: „Hoffnungsfreudig, obwohl die Katastrophe droht“.
Daß Udo Samel diese Konflikte hervorragend nachspielt, wird wohl keinen wundern – zumal Peter Groeger Regie führt, ein leidenschaftlicher Wortdirigent. Groeger hält sich zurück und setzt seinen Stoff streng in Szene. Als Selbstgespräch eines einsamen Schreibers, vor dem Hintergrund einer brutalen und zynischen Wirklichkeit, die als zurückhaltende O-Ton-Collage ins Hörspiel dringt: Nivea-Reklame, verfremdete Reden der mächtigen Verbrecher, Fliegerangriffe und die Rundfunk-Humorstunde „Lachen und lachen lassen“.
Ganz unprätentiös, aber überzeugend spiegelt das Hörspiel damit die Ästhetik der Text-Vorgabe, die Vermischung von Klein und Groß, ohne Anspruch auf Alleingültigkeit. Es war Klemperers Wunsch, „der Kulturgeschichtsschreiber der gegenwärtigen Katastrophe“ zu werden. Das Material hat er geliefert. Gaby Hartel
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