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■ Christoph Seidler, einer der meistgesuchten Terroristen, ist aus dem Untergrund aufgetaucht: Er sagt, er sei nie bei der RAF gewesen. Mit ihm sprach Wolfgang Gast"Das ist nicht mein Leben"

Herr Seidler, seit Jahren werden Sie gesucht, Sie gelten als einer der Topterroristen aus der RAF. Wie lange haben Sie für die Entscheidung gebraucht, sich stellen zu wollen?

Christoph Seidler: Sehr lange. Endgültig gefallen ist mein Entschluß erst kurz vor meiner Rückkehr nach Deutschland im Sommer 1995.

Wie haben Ihre Freunde und Angehörigen reagiert?

Am Anfang haben sie sich gefreut und waren über das Wiedersehen erleichtert. Aber im Moment ist überhaupt nicht abzusehen, wie sich das weitere Verfahren entwickeln wird. Ich fürchte, daß es eine heftige Auseinandersetzung mit der Bundesanwaltschaft geben wird. Mir droht im schlimmsten Fall eine lebenslange Freiheitsstrafe – das will natürlich weder ich noch jemand aus meiner Familie oder meinem Bekanntenkreis. Die Alternative wäre jedoch, mich weiter zu verstecken, und das wegen eines Vorwurfs, der frei erfunden ist. Ich kann und will mich aber nicht mein ganzes Leben lang verstecken. Meine Familie und ich wollen durch eine anhaltende Fahndung nicht ständig bedroht sein.

Wenn die Vorwürfe gegen Sie erfunden sind, wie können sie dann eine Bedrohung darstellen?

Daß die Vorwürfe erfunden sind, das weiß erst einmal nur ich. Selbst wenn ich davon ausgehe, daß der Staatsschutz dies ebenso weiß: Die Fahndung nach mir als angeblichem RAF-Mitglied geht weiter. Und wie die Fahndung nach Personen, die der RAF zugerechnet werden, ausgehen kann, das hat sich in Bad Kleinen mit dem Tod von Wolfgang Grams gezeigt. Das meine ich mit Bedrohung, wobei ich nicht einmal unterstellen will, daß in Bad Kleinen ein bewußter Vorsatz im Spiel gewesen ist.

Im Rahmen des Aussteigerprogrammes bemüht sich der Verfassungsschutz, Ihre Rückkehr in die Legalität zu ermöglichen. Die Fahndung nach Ihnen ist doch ausgesetzt worden.

Ob das auf allen Ebenen so ist, wurde mir gegenüber offengelassen. Erst vor wenigen Wochen noch hat die Bundesanwaltschaft mit einer neuen offenen Fahndung für den Fall gedroht, wenn ich an die Öffentlichkeit gehen sollte.

Nach Ihrer Rückkehr haben Sie die Hilfe des Kölner Verfassungsschutzes in Anspruch genommen. Diese Behörde gilt ja nicht nur den militanten linksradikalen Zirkeln als höchst suspekt. Würden Sie anderen, die ebenfalls gesucht werden und in einer Ihnen vergleichbaren Situation sind, den gleichen Schritt empfehlen?

Empfehlen? Ich habe mir gesagt: Was ich einem Gericht werde erzählen müssen, das kann ich auch dem Verfassungsschutz erzählen. Ich habe dem Verfassungsschützer mit dem Namen Hans Benz die Frage gestellt, wie er ein solches Vorgehen für andere Personen einschätzt. Benz meint, zuerst einmal sei es wohl für jeden anderen, der mit keinem Mordvorwurf konfrontiert ist, einfacher als für mich.

Das Angebot als solches ist also reell?

Versuchen Sie einmal, die Situation nachzuvollziehen, in der ich vor einem Jahr war. Ich kam zum ersten Mal nach Deutschland zurück. Ich habe meine Eltern und meinen Anwalt kontaktiert, und ich war entschlossen, mich zu stellen. Die erste Frage an meinen Anwalt war, was er tun kann, um einen Überblick über meine Situation zu bekommen. Seine Antwort lautete: Er könne natürlich nach Karlsruhe zur Bundesanwaltschaft gehen, dort eine Vollmacht von mir vorlegen und Akteneinsicht verlangen. Daß hieße aber, daß die Gefahr einer Fahndung nach mir in seinem Umfeld bestünde. Mit anderen Worten: Ich hätte den Kontakt zu meinem Anwalt gleich wieder abbrechen müssen.

Darüber hinaus war der Verfassungsschützer Benz seit über zwei Jahren regelmäßig alle drei Monate bei meiner Familie zu Gast. Er hat ihr immer wieder von diesem Aussteigerprogramm erzählt. Meine Familie hat zehn Jahre lang versucht, wenigstens ein Lebenszeichen von mir zu bekommen. Deswegen hat sie sich auch auf den Kontakt mit Benz eingelassen. Ich war mir daher völlig sicher, daß Benz bei seinem nächsten Besuch bei meinen Eltern oder bei meiner Schwester die veränderte Stimmung nach meiner Rückkehr sofort mitbekommt, selbst wenn meine Familie nichts darüber erzählen würde. Deshalb habe ich meinen Angehörigen gesagt: Wenn Benz das nächste Mal kommt, schickt ihn gleich zu meinem Anwalt. Ich hatte mir auch überlegt, über Benz den Überblick über die Vorwürfe gegen mich zu bekommen.

Das klingt ganz vernünftig.

Ist es aber nicht. Im Grunde genommen habe ich mich zu dem Kontakt zum Verfassungsschutz genötigt gesehen. Dann kam das Angebot. Das hieß: Das und das wird mir vorgeworfen, wir müssen also den juristischen Weg beschreiten und Gegenbeweise für den in Frage kommenden Zeitraum um den Herrhausen-Anschlag herum beibringen. In dieser Zeit, sagten sie, geben wir zwar keine Hinweise an die Fahndungsbehörden, aber die Fahndung läuft weiter. Ein Angebot zu einer politischen Lösung ist das nicht, denn mehr als der juristische Weg wird ja nicht angeboten. Und dazu brauchte es im Grunde gar keinen Verfassungsschutz.

Ich habe versucht, dieses Angebot für mich zu nutzen, um die Herrhausen-Anklage vom Tisch zu bekommen. Es wirft aber eine bezeichnendes Licht auf die ganze Staatsschutzjustiz, wenn Benz weiter sagt, es würde ein ganz anderes Klima in Karlsruhe herrschen, wenn sich dort jemand ohne seine Hilfe stellen wollte. Denn das bedeutet: Es soll kein objektives Verfahren geben ohne den Kontakt zum Verfassungsschutz, und ich muß zugeben, daß ich das in meinem Fall auch gefürchtet habe. So konnte ich ich diesem Jahr der „Vorabklärung“ wenigstens eine minimale soziale Basis wiederaufbauen.

Sie sind offensichtlich kein Einzelfall. Das frühere RAF-Mitglied Eva Haule hat in einer Vernehmung erklärt, zeitgleich mit Ihnen seien auch andere in die Illegalität gegangen, ohne jemals bei der RAF angekommen zu sein. Konkret hat sie dabei Andrea Klump genannt, die wie Sie von dem Kronzeugen Siegfried Nonne beschuldigt wird, bei dem Attentat auf Herrhausen beteiligt gewesen zu sein.

Was Eva Haule sagt, stimmt. Auch Andrea Klump war nie bei der RAF. Ich weiß, daß sie 1985 aus der Bundesrepublik wegwollte. Und soweit mir bekannt ist, hat sie auch einen Weg in ein Exil gefunden. Ansonsten will ich es dabei belassen, über andere nichts zu sagen.

In diesen Zusammenhang gehört, daß der Verfassungsschützer Benz vermutet, daß von den sieben Leuten auf den heutigen Fahndungsplakaten außer mir noch mindestens drei weitere schon eine ähnlich lange Zeitspanne wie ich im Ausland leben. Das heißt, die Strafverfolgungsbehörden verfolgen seit Jahren Personen als RAF- Mitglieder, die sie selber mit großer Wahrscheinlichkeit gar nicht dazu zählen.

Sie sind nie Mitglied der RAF gewesen, aber mit deren Hilfe ins Exil gegangen? Wie sah das Zusammenspiel zwischen Ihnen und der RAF aus?

Ich wußte, daß es Leute gab, die so wie ich, auch aus ähnlichen Motiven, den Weg in die Illegalität gesucht haben. Für sie und mich war aber klar, daß dies kein Weg ist, der zur RAF führt. Die, die ich kannte, waren Leute aus dem antiimperialistischen Spektrum. Die Kontakte, die es zur RAF gab, resultierten aus dem damaligen gemeinsamen Interesse: Widerstand zu leisten gegen die Nato-Politik und das, was wir als imperialistischen Krieg bezeichnet haben, und zwar jeder so, wie er es für richtig hält. Illegalität war doch keine Gleichsetzung mit militanten Aktionen.

Die gängige Formel heißt doch: Zur RAF gehört nur, wer eine Waffe trägt.

Ich weiß nicht, wie das bei der RAF war. Schließlich war ich nicht dabei. Für mich war jemand bei der RAF, wenn er das wollte. Ich habe die Gruppe damals als militante und militärische Organisation wahrgenommen, deren Isolierung ich während meines Politisierungsprozesses nach 1977 eigentlich immer schade fand. Auch in meiner Arbeit zu den RAF-Gefangenen war es immer mein Punkt, diese Isolierung aufzubrechen. Diese Ausschließlichkeit, auf der einen Seite die RAF und auf der anderen Seite die anderen Gruppierungen, das habe ich nie so dogmatisch empfunden.

Schließlich gab es dann die Eskalation durch die RAF in den Jahren 1984 und 1985, die nur ihre weitere Isolation zur Folge hatte. Das war für mich der Punkt, an dem ich ins Exil gegangen bin.

Der Weg ins Exil war also auch eine Abkehr von dem elitären Selbstverständnis der RAF?

Ich konnte ihre Argumentation nachvollziehen, wußte aber, daß das nicht meine Sache war. Ich brauchte Distanz dazu. Das habe ich ihnen damals auch gesagt.

Wie groß war der Sprung, in den Libanon zu gehen und dort an der Seite der Palästinenser im libanesischen Bürgerkrieg zu kämpfen?

Es war ein Sprung ins kalte Wasser. Ich wußte nicht sehr viel über den palästinensischen Befreiungskampf, ich konnte die Sprache nicht, ich wußte auch nicht, was mich erwartete. Es blieb der einzig gangbare Weg, das Exil war für mich nicht anders organisierbar. In dem Moment, wo es klar war, daß es diesen Weg gibt, habe ich gesagt: okay. Übrigens bin ich in den Libanon gegangen, um dort zu leben – und für die Jahre, in denen das möglich war, bin ich dankbar.

In die Zeit Ihres Aufenthaltes im Libanon fällt der Vorwurf der Bundesanwaltschaft, Sie seien am 30. 11. 1989 am dem Sprengstoffanschlag auf Herrhausen beteiligt gewesen. Wie wollen Sie die Karlsruher Behörde überzeugen, daß Sie in dieser Zeit im Libanon waren?

Ich wäre doch im Leben nicht für eine RAF-Aktion wieder zurückgekommen. Für mich begann mit dem Schritt ins Exil die Suche nach neuen Lebensbedingungen. Ich bin ins Exil gegangen, weil ich zur RAF gerade nicht wollte. Das war 1986 schon so und hat sich nie mehr verändert

Die Bundesanwaltschaft scheint das aber anders zu sehen.

Die Bundesanwaltschaft sieht nur, daß sie mit leeren Händen dasteht, wenn sie zugeben muß, daß ich an dem Anschlag auf Herrhausen nicht beteiligt war. Es geht auch nicht darum, die Bundesanwaltschaft zu überzeugen. Es gab lange Phasen, in denen sie selbst dem Zeugen Nonne nicht geglaubt hat, sonst hätte sie seine Glaubwürdigkeit doch gar nicht untersuchen lassen. Die Entscheidung, diesem Zeugen unter allen Umständen zu glauben, fiel doch nur, weil die Bundesanwaltschaft im Falle Herrhausen einen Erfolg braucht.

Die Bundesanwälte sind mittlerweile überzeugt, daß ich im Libanon war. Die Vorstellung, daß ich nach dem Bruch mit meinen früheren politischen Zusammenhängen noch einmal aus dem Exil zurückgekehrt sein könnte, um mich an einem Anschlag zu beteiligen, die ist doch absurd!

Die Bundesanwaltschaft fordert von Ihnen aber ein Alibi für den Tag des Anschlags.

Ich selbst kann mich an den 30. November nur in Bruchstücken erinnern. Ich habe die Nachricht im Libanon im Autoradio gehört. Es war damals Krieg, alle waren mit allem möglichen beschäftigt, aber nicht unbedingt mit der Frage, was in Deutschland vorgeht. Es ist daher logisch, wenn alle bisher befragten Zeugen zu meinem Aufenthalt das gleiche sagen: Der war hier, der war immer hier. So war es doch auch. Ich war damals weder im November noch zu einem anderer Zeitpunkt weg.

Können Sie sich erklären, wie Siegfried Nonne dann zu seiner Aussage kommt, die Sie so schwer belastet?

Ich kenne Nonne aus den Jahren 1979 und 1980. Ich weiß auch, daß Andrea Klump ihn kannte. Seine persönlichen Umstände sind sehr schwierig. Seine Mutter ist gestorben, sein soziales Umfeld ist schon lange weggebrochen, er war in psychiatrischer Behandlung. Er war Jahre vor seiner Aussage über mich vom hessischen Verfassungsschutz rausgeworfen worden, für den er vier Jahre als Spitzel tätig gewesen ist. Vielleicht wollte er sich wichtig machen, um dort wiedereinzusteigen. Soweit mir bekannt ist, stützt sich das Glaubwürdigkeitsgutachten über Nonne im Kern darauf, daß er sehr plastisch Begegnungen mit mir und Andrea Klump geschildert hat. Da hat der Gutachter gemeint, das kann keiner erfinden.

Ich habe in den Akten an Zeugenaussagen von Siegfried Nonne herausgefunden, daß er mit Mustern arbeitet, die aus früheren Zeiten stammen. Zum Beispiel schildert er die erste Begegnung mit mir. Ich sei im Auto vorn gesessen, Andrea auf der Rückbank, er sei eingestiegen. Ich hätte nur ganz kurz „hallo!“ gesagt und ein kühles, distanziertes Verhältnis bis zum Schluß durchgezogen. Andrea hätte sich dagegen warmherzig um ihn gekümmert.

Im Grunde war das alles auch so, es ist nur Jahre vorher passiert. Ich kannte ihn aus einer politischen Gruppe, die sich mit den Gefangenen auseinandersetzte. Andrea hat damals Nonne in die Gruppe eingeführt. Ich weiß, daß er mit Andrea mehr zu tun hatte, ich habe ihn aber außerhalb der Gruppe nie gesprochen. Was die Aussagen Nonnes vollends unglaubwürdig macht: Es gibt von ihm die Aussage, ich hätte 1980 einen Agenten des Verfassungsschutzes totgefahren. Das fand auch die Bundesanwaltschaft merkwürdig. Sie suchte nach einem totgefahrenen Agenten, fand aber keinen.

Wie geht es für Sie jetzt weiter?

Die Bundesanwaltschaft hat angekündigt, Nonnes Gutachter noch einmal zu befragen. Sie will auf jeden Fall gegen eine Aufhebung meines Haftbefehls Einspruch einlegen, weil sie die Unvereinbarkeit der Aussagen von Nonne mit den meinen von einem Gericht geklärt sehen will. Das heißt, daß der Vorgang nächste Woche an den Ermittlungsrichter weitergegeben wird. Zu erwarten ist, daß dieser einen Haftprüfungstermin anberaumt – und zu diesem werde ich erscheinen. Was auch immer dann passiert, gegen den Vorwurf mit Herrhausen werde ich mich wehren, notfalls durch alle Instanzen. Der Vorwurf hat mit meinem Leben nichts zu tun.

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