: Wir basteln uns ein Steuerloch
Kein Wunder, daß dem Waigel die Milliarden fehlen: Er verschenkt die Einkommensteuer. So fällt sie nicht höher aus als vor dreißig Jahren ■ Aus München Felix Berth
I.
Wir schreiben das Jahr 1963. Der deutsche Arbeiter verdient pro Monat im Schnitt 975 Mark netto, der deutsche Freiberufler kann ungefähr 2.275 Mark ausgeben. Das Statistische Bundesamt meldet eine Arbeitslosenquote von 0,8 Prozent. Auch der kulturelle Aufschwung ist offensichtlich: Die erste Bundesliga wird gegründet, Konrad Adenauer tritt zurück, das Zweite Deutsche Fernsehen beginnt zu senden. Die Steuern sprudeln: Allein die Einkommensteuer, gezahlt von allen Freiberuflern der Republik, steigt auf 13,5 Milliarden Mark.
Schnitt. Wir schreiben das Jahr 1995. Alles ist anders. Der deutsche Arbeitnehmerhaushalt hat im Monat etwa 5.000 Mark zur Verfügung, die Arbeitslosenquote liegt bei etwa zehn Prozent. Zwei Dinge erweisen sich als ungemein statisch: Kohl und die Einkommensteuer. Weil uns politische Trägheit aber nicht interessiert, wenden wir uns der Einkommensteuer zu: Sie liegt 1995 auf dem Niveau von 1963. Um genau zu sein: Bei 13,99 Milliarden Mark.
II.
Ein auffallender Stillstand, der bange Fragen auslöst: Wieso stieg das Steueraufkommen nicht? Schlafen die Steuerbeamten seit 30 Jahren? Oder blieben die Einkommen seit 1963 konstant, so daß auch die Einkommensteuer stagnierte? Aber wieso jammern dann alle über die ständig steigende Steuerlast? Und wieso kommentiert Theo Waigel neuerdings Fußballspiele?
III.
Damit sich niemand über finanztechnische Ungenauigkeiten beschweren kann, wollen wir an dieser Stelle eine kleine Begriffsdefinition einschieben. Die verblüffend konstante „Einkommensteuer“ heißt in korrektem Finanzamtsdeutsch „veranlagte Einkommensteuer“.
Gezahlt wird sie hauptsächlich von Freiberuflern wie Rechtsanwälten, Ärzten und Unternehmern. Doch auch normale Lohnsteuerzahler haben damit zu tun: Wenn sie am Jahresende ihre Steuererklärung abgeben und vom Finanzamt etwas zurückkriegen, verbucht das Finanzamt diese Summe als Minus beim Posten der „veranlagten Einkommensteuer“.
Das kann von einem kleinen Betrag bis zu stattlichen Summen gehen. Dann, wenn ein Lohnsteuerzahler ein Häuschen baut und dafür Steuervergünstigungen kassiert. Etwas vereinfacht gilt: Freiberufler zahlen in diesen Topf der „veranlagten Einkommensteuer“ ein. Häuslebauer, Bürohauskäufer und andere kassieren daraus staatliche Vergünstigungen.
IV.
Anruf bei Herrn Blome, einem netten Herrn im Statistischen Bundesamt. Der wirft seinen Computer an und läßt die genauen bundesdeutschen Einkommensteuer- Einnahmen der letzten Jahrzehnte ausdrucken:
1963 13,451 Milliarden
1970 16,001 Milliarden
1980 36,796 Milliarden
1990 36,519 Milliarden
1991 41,532 Milliarden
1992 41,531 Milliarden
1993 33,233 Milliarden
1994 25,509 Milliarden
1995 13,997 Milliarden
Nun läßt sich das Problem immerhin zeitlich eingrenzen: Von 1992 bis 1995 sind zwei Drittel der Einkommensteuern irgendwo verlorengegangen. Wo könnte das Leck sein, fragen wir Hanns Karrenberg, Mitglied des Arbeitskreises Steuerschätzung. Das ist jenes hochkarätige Gremium, das jährlich Tips abgibt, wieviel Steuern der Finanzminister im nächsten Jahr voraussichtlich einehmen wird.
Wer solche kühnen Prognosen wagt, müßte auch über die Vergangenheit Auskunft geben können. Doch Hanns Karrenberg enttäuscht ein bißchen: „Tja, so genau weiß keiner, wo die veranlagte Einkommensteuer geblieben ist.“ Man habe da in den letzten Jahren „böse Überraschungen“ erlebt. Vermutlich habe das mit „erheblichen zusätzlichen Abschreibungsmöglichkeiten“ zu tun.
V.
Vielleicht führt uns die Lektüre eines Protokolls weiter. Plenarsitzung Nummer 25 im Deutschen Bundestag, 14. Mai 1991. Das Wort hat Finanzminister Theo Waigel von der CSU: „Wir haben in den letzten neun Jahren die Steuerpolitik erfolgreich für die Interessen unserer Bürger eingesetzt; wir werden das auch in Zukunft tun.“ Leider dominiere noch der Eindruck, die von ihm vorgelegten neuen Gesetze seien „allein im Interesse der gut 16 Millionen neuen Mitbürger“. Das sei falsch.
Verabschiedet werden an diesem Tag einige Paragraphen, die als „Fördergebietsgesetz“ in die deutsche Wirtschaftsgeschichte eingehen. Darin steht, welche Steuervergünstigungen für Investitionen in den neuen Ländern gewährt werden.
Im Gesetzestext heißt es dazu: „Die Sonderabschreibungen betragen bis zu 50 vom Hundert der Anschaffungskosten.“ Im Klartext heißt das: Wer im Osten eine neugebaute Wohnung oder ein frisch errichtetes Büro kauft, kann die Hälfte des Preises von der Steuer absetzen.
Schon bald danach erkennen die Baufirmen ihre Chance und locken die Anleger: „Drehen Sie Ihre Steuerschraube zurück“, werben sie in den Immobilienteilen der Zeitungen. Oder baß erstaunt: „Unglaublich: Staatliche Förderung ersetzt Ihr Eigenkapital“.
Seitdem wird im Fördergebiet gebaut, was die Betonmischer hergeben, wobei die Geförderten fast ausschließlich im Westen sitzen, wie die Banken bald feststellen. (Konsequenterweise müßte man eigentlich die alten Bundesländer zum „Fördergebiet“ erklären und die neuen Länder zum „Baugebiet“. Aber dann hätte man das Gesetz „Baugebietsgesetz“ nennen müssen – und das klingt nun wirklich zu abwertend.)
VI.
Zwischenfrage: Welcher Teil der Steuerstatistik zeigt, was dieses Fördergebietsgesetz bewirkt hat? Welche Steuer sinkt, wenn die Freiberufler und Häuslebauer plötzlich neue Abschreibungsmöglichkeiten entdecken? Genau: Die veranlagte Einkommensteuer, die in den letzten Jahren von 41 auf 14 Milliarden geschrumpft ist.
Dummerweise gibt uns die Statistik keine Chance, das Steuerloch ausschließlich durch die Geschenkidee von Theo W. zu erklären. Denn rechnerisch machen sich bei diesem Posten auch noch ein paar andere Faktoren bemerkbar – zum Beispiel die Arbeitnehmer-Sparzulage und anderer Schnickschnack für normale Lohnsteuerzahler.
Da uns nicht bekannt wurde, daß die Arbeitnehmer-Sparzulage in astronomische Höhen geschraubt wurde, wagen wir die Vermutung, daß der allergrößte Teil dieses Steuerlochs durch das „Steuergeschenk des Jahrhunderts“ (Süddeutsche Zeitung) geschaffen wurde.
VII.
Und wir wissen bei dieser Vermutung die finanzpolitische Kompetenz der CSU auf unserer Seite. Erwin Huber, gewissermaßen der Theo Waigel des Freistaats, findet markige Worte für das Fördergebietsgesetz: „Diese Steuersparmodelle werden von kapitalkräftigen Anlegern nur mehr zum Zwecke der Steuerersparnis in Anspruch genommen. Der volkswirtschaftliche Nutzen tendiert gegen Null.“ (Pressemitteilung vom April 1996).
An diesem Punkt erscheint eine Rüge für den bayerischen Finanzminister angebracht. So hart darf man das dann doch nicht ausdrücken. Denn mit einem einzigen Gesetz ist es Theo Waigel gelungen, das zu verwirklichen, was die FDP seit Jahren fordert: Die Senkung der Steuerlast für die Besserverdienenden.
VIII.
Der Arbeitskreis Steuerschätzung hat gestern übrigens seine Prognose abgegeben, wieviel Einkommensteuer der Staat 1997 kassieren wird. Auf der Zahl sitzt das Finanzministerium jedoch und rückt sie nicht heraus.
Viel mehr als letztes Jahr dürfte es allerdings nicht sein. Denn bis Ende 1996 kann man die Sonderabschreibungen nach dem „Fördergebietsgesetz“ kriegen. Sie erstrecken sich dann auf fünf Jahre – also enden die letzten Vergünstigungen im Jahr 2000.
Viel Spaß, Theo!
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