: Erst mitgegangen, dann mitgehangen
Bundesweit neu: Niedersachsens Staatsanwälte verfolgen wegen Landfriedensbruchs geschlossen alle TeilnehmerInnen einer Anti-Nazi-Demo. Verzicht auf Einzelvorwürfe ■ Aus Hannover Jürgen Voges
Bundesweit einmalig – das ist die strafrechtliche Verfolgung von TeilnehmerInnen einer Demonstration des „Bündnis gegen Rechts“ am Nazi-Schulungszentrum in Hetendorf bei Celle. Die hannoversche Rechtsanwältin Karin Sehr führt darüber Buch: Genau 201 Verfahren wegen Landfriedensbruchs bei Staatsanwaltschaften von Hildesheim bis Lüneburg hat die Anwältin im Zuge der Demo gegen eine Hetendorfer „Sonnenwendfeier“ gezählt. Und genau 201 Demonstranten waren im Juni bald nach ihrer Ankunft an dem Nazi-Tagungshaus „Heideheim“ von der Polizei für Stunden eingekesselt worden.
Auseinandersetzungen mit den Ordnungskräften, die die Sonnenwendfeier schützten, hatte es im Juni nicht gegeben. Aus der Demo wurden allerdings vor der Einkesselung Feuerwerkskörper in Richtung Heideheim geworfen und einige Leuchtkugeln abgeschossen. Namhaft machen konnte die Polizei damals die dafür verantwortlichen einzelnen „Störer“ nicht. Nach dem Motto „Dabeisein ist alles“ verfolgen nun die Staatsanwaltschaften dennoch praktisch alle Demoteilnehmer wegen Landfriedensbruchs. Deren Personalien hatte die Polizei aufgenommen, bevor sie die Demonstranten nach Stunden wieder aus dem Kessel entließ.
„In keinem Fall haben die Ermittlungsbehörden auch nur versucht, eine individuelle Beteiligung an den vorgeworfenen Taten zu behaupten“, sagt der hannoversche Rechtsanwalt Eckart Klawitter. Als „Beweis“ für die Beteiligung am Landfriedensbruch findet sich etwa in einer Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Hildesheim lediglich die Bemerkung, daß ein Polizeibeamter die Identität des Angeklagten im Kessel festgestellt habe.
Anwalt Klawitter hält das Vorgehen der Staatsanwälte gleich gegen die ganze Demo für bundesweit einmalig. Zwar stellt der vor einigen Jahren geänderte Landfriedensbruchparagraph auch schon die bloße Teilnahme an Gewalttätigkeiten unter Strafe. Aber auch diese Teilnahme muß den Beschuldigten noch immer durch eine konkrete Handlung, die Gewalttätigkeiten unterstützt, nachgewiesen werden. Darauf verzichteten jedoch die Staatsanwaltschaften.
„Eine Kollektivbestrafung einer Menge nach dem Motto ,mitgefangen – mitgehangen‘ gibt es in unserem Strafrecht bisher nicht“, sagt Rechtsanwalt Klawitter. Doch gerade diese Kollektivbestrafung werde nun versucht.
Die 201 Landfriedensbruchsverfahren haben die verschiedenen Staatsanwaltschaften denn auch bisher recht unterschiedlich behandelt. Neben zwei Dutzend landesweit bereits fertigen Anklagen, vor allem vor den Jugendgerichten, hat etwa die Braunschweiger Staatsanwaltschaft auch schon Strafbefehle über 40 Tagessätze an angebliche Landfriedensbrecher versandt. Die Lüneburger Staatsanwaltschaft wiederum verlangt von erwachsenen Beschuldigten nur Zahlungen von Geldbußen zwischen 200 und 400 Mark.
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