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Jeder Rechtfertigung entzogen

■ Die Schüsse an der Mauer wurden zu Recht bestraft. Das Grenzregime der DDR war ein schwerer Verstoß gegen international anerkannte Menschenrechte, urteilt das Bundesverfassungsgericht Von Julia Albrecht

Jeder Rechtfertigung entzogen

„Privatreisen nach dem Ausland können ohne Voraussetzungen, Reisepässe und Verwandtschaftsverhältnisse beantragt werden.“ Dieser unvergeßliche Satz am Abend des 9. Novembers 1989 vor laufender Kamera von Günter Schabowski verlesen, war der Anfang vom Ende der DDR. Stunden später waren Mauer und Grenze nur noch Makulatur. Monate später begannen bereits die Ermittlungen gegen all jene, die Schuld trugen an den 208 Toten, erschossen auf der Flucht an Mauer und Stacheldraht.

Sie tragen nicht nur Schuld, sondern müssen auch bestraft werden. Das hat gestern das Bundesverfassungsgericht in seiner bislang wichtigsten Entscheidung zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit entschieden. Das höchste Gericht folgt damit den Urteilen des Bundesgerichtshofs (BGH), dessen Berliner Senat schon vor Jahren eine Strafbarkeit der Mauerschützen und Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats bejaht hatte.

Gegen ihre Verurteilungen durch den BGH hatten ein Grenzsoldat und die Mitglieder des Nationalen Verteidungsrats Verfassungsbeschwerden eingelegt. Der Soldat war wegen Totschlags an einem DDR-Flüchtling zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und zehn Monaten auf Bewährung verurteilt worden. Der frühere DDR- Verteidigungsminister Heinz Keßler, sein Stellvertreter Fritz Streletz und der ehemalige Suhler SED- Chef Hans Albrecht waren ebenfalls wegen Tötungen an der Grenze zu Freiheitsstrafen bis zu siebeneinhalb Jahren verurteilt worden. Die drei alten Männer müssen nun ihre Haftstrafen, die bislang ausgesetzt waren, antreten.

In ihren Verfassungsbeschwerden rügten die Männer vor allem die Verletzung des Rückwirkungsverbotes. Dieser tragende Grundsatz jedes Rechtsstaats ist im Grundgesetz niedergelegt. Er besagt, daß niemand für eine Handlung bestraft werden darf, die zur Tatzeit straffrei war.

Schon einmal stand die Frage nachträglicher Bestrafung im Zentrum der Diskussion um die juristische Aufarbeitung von Unrecht. Waren die Vollstreckungsgehilfen und Akteure des nationalsozialistischen Diktatur strafbar? Konnten sie im Nachhinein für ihr Wüten zur Verantwortung gezogen werden? Gustav Radbruch, der große Rechtstheoretiker und Positivist der Weimarer Republik, hatte 1946 angesichts der NS-Verbrechen für eine Durchbrechung des Rückwirkungsverbots plädiert. Dann, und nur dann, wenn das Recht zur Gerechtigkeit in einem unerträglichen Widerspruch geraten sei, dürfe bestraft werden.

Heute, mehr als 50 Jahre später, wird Radbruch wieder zu Rate gezogen. In einer fast wörtlichen Wiedergabe seiner Formulierung urteilt das Verfassungsgericht: „Das Grenzgesetz, das den Schußwaffengebrauch erlaubte, verstößt in unerträglichem Maß gegen die Gerechtigkeit und damit gegen die international anerkannten Menschenrechte.“ Trotz entsprechender Gesetze können somit die „Täter“ für ihr Tun verurteilt werden.

Die höchsten Richter urteilten, das Rückwirkungsverbot sei „absolut“. Für die Bürger eines Staates „garantiere es das Vertrauen darauf, daß der Staat nur ein solches Verhalten als strafbare Handlung verfolgt, für das der Gesetzgeber die Strafe im Zeitpunkt der Tat gesetzlich bestimmt hat“. Dieser Grundsatz gelte allerdings dann nicht mehr uneingeschränkt, wenn es um die Beurteilung von Strafen in der ehemaligen DDR geht. Der zweite Senat vertrat die Auffassung, daß die spezifische Vertrauensgrundlage, die das Rückwirkungsverbot enthält, dann entfällt, wenn „der andere Staat für den Bereich schwersten kriminellen Unrechts die Strafbarkeit durch Rechtfertigungsgründe ausschließt“.

Einen solchen Rechtfertigungsgrund enthielt Paragraph 27 Absatz 2 DDR-Grenzgesetz. Er sah vor, daß unter bestimmten Voraussetzungen das Töten von Flüchtlingen an der Grenze gerechtfertigt war. Darauf hatten sich die Mauerschützen stets verlassen. In allen Verfahren gegen ehemalige Grenzer, die getötet haben – in Berlin wurden bislang 34 von ihnen rechtskräftig verurteilt –, verwiesen sie auf dieses Gesetz und die Befehlslage an der Grenze.

Interessant ist eine einschränkende Passage der Entscheidung. Das Verfassungsgericht setzte sich mit der Frage auseinander, ob der einzelne Mauerschütze überhaupt erkennen konnte, daß sein Tun trotz Grenzgesetz und Befehlslage menschenrechtswidrig war. Eine solche Erkennbarkeit sei dann gegeben, wenn der Schütze sein Gewehr auf Dauerfeuer eingestellt und derart auf einen unbewaffneten Flüchtling gehalten hätte. Ein solches „schreckliches Tun sei jeder möglichen Rechtfertigung entzogen und auch für einen indoktrinierten Menschen ohne weiteres einsichtig und damit offensichtlich“. Auch wenn diese Einschränkung vielen Mauerschützen nichts nützen wird – jene, die ihre Kalaschnikows nicht auf Dauerfeuer gestellt hatten, dürften künftig vielleicht auf Freispruch hoffen.

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