: Der DGB steht still, wenn's Zwickel will
■ IG-Metall-Chef Zwickel will Gewerkschaftskongreß boykottieren, wenn Grundsatzprogramm nicht angenommen wird. DGB-Chef Schulte droht mit „kaltem Winter“ gegen die „Brandstifter“ aus Regierung und Arbeitgebern
Dresden (taz) – In einer kämpferischen Rede hat der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Dieter Schulte, gestern in Dresden zu Beginn des DGB- Kongresses alle Einzelgewerkschaften aufgefordert, die Kräfte zu „bündeln“ und gemeinsam den Sozialstaat zu verteidigen. Den Gewerkschaften stünden „harte Auseinandersetzungen“ bevor. Am selben Tag drohte IG-Metall-Chef Klaus Zwickel damit, den Kongreß vorzeitig zu verlassen, wenn das neue DGB-Grundsatzprogramm nicht angenommen wird.
Der Bonner Regierung warf Schulte vor, durch ihre Politik der Deregulierung und Privatisierung die „zerstörerischen Kräfte des Marktes entfesselt“ zu haben. In der Politik und im Arbeitgeberlager gewännen jene Kräfte an Einfluß, „denen der Profit im globalen Wettbewerb über alles geht“. Schulte sagte, wenn im Arbeitgeberlager nicht bald Vernunft einkehre, stünde nach dem heißen Herbst in Deutschland ein „sehr kalter Winter bevor“. „Wir können kämpfen – das haben wir den Brandstiftern in diesem Land gezeigt.“ Für die Gewerkschaften gehe es jetzt darum, sich mit allen zu verbünden, die den Marsch in eine Republik der „enthemmten Marktwirtschaft nicht wollen“.
An die Delegierten richtete Schulte den Appell, bei der Programmdiskussion „zu einem Ergebnis zu kommen, mit dem wir in die Zukunft starten können“. Der bis Samstag andauernde Kongreß müsse das programmatische Fundament für eine „sozialökologische Reformstrategie“ legen. Während der Chef der IG Medien, Detlef Hensche, am Rande des Kongresses erneut für eine Vertagung der Beschlußfassung plädierte, drohte der IG-Metall-Vorsitzende Zwickel für diesen Fall mit der Abreise seiner gesamten Delegation. Die Zeit, so Zwickel, sei „reif für einen Beschluß“. Der stark überarbeitete Entwurf, so hielt Zwickel den linken Kritikern vor, ziele auf die Stabilisierung der gewerkschaftlichen Gegenmacht ab und mache keinen Frieden mit dem bestehenden Wirtschafts- und Sozialsystem. Insgesamt fünf Einzelgewerkschaften plädierten für eine Vertagung der Abstimmung über das Grundsatzprogramm. Umstritten ist vor allem das Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft. Hatte im ursprünglichen Entwurf noch gestanden, diese sei „besser als andere Wirtschaftsordnungen geeignet, die Ziele der Gewerkschaften zu erreichen“, heißt es in einem der Änderungsanträge: „Die sozial regulierte Marktwirtschaft bedeutet gegenüber einem ungebändigten Kapitalismus einen großen historischen Fortschritt.“
Gestern signalisierte ein Großteil der ÖTV-Delegierten, im Sinne Zwickels abstimmen zu wollen. Noch vor wenigen Wochen hatte der ÖTV-Kongreß in Stuttgart sich für eine Vertagung ausgesprochen. Den Meinungswandel begründete ÖTV- Chef Herbert Mai nach einem Gespräch mit seinen Delegierten mit den starken Veränderungen am ursprünglichen Programmentwurf. Dadurch sei eine neue Lage entstanden.
Schulte hofft, daß von dem Kongreß die Botschaft ausgeht, daß die Gewerkschaften „für eine andere Moderne streiten, für eine andere Zukunft, als es uns die Interessen der Shareholder vorschreiben wollen“. Modern heiße für den DGB, „dem globalen Kapital Fesseln anzulegen, so wie wir dem nationalen Kapital sozialen Fortschritt abgerungen haben“. Wenn das nicht gelinge, drohe eine Gesellschaft, „die sich den Spielregeln des Kasinokapitalismus unterwirft“.
Von einer Symbolkraft des Tagungsortes sprach Schultes Stellvertreterin Ursula Engelen-Kefer. Man habe sich bewußt für Dresden entschieden, um zu zeigen, daß „wir nicht bereit sind, die in einer friedlichen und demokratischen Revolution überwundene Teilung Deutschlands mißbrauchen zu lassen für eine Politik, die die Spaltung der Gesellschaft will oder zumindest fahrlässig in Kauf nimmt“. Gerade von ostdeutschen Delegierten wird in den nächsten Tagen viel Kritik am Programmentwurf erwartet. Walter Jakobs
Debatte Seite 10
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