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Vielfalt als Provokation

Ein Häuflein Unverzagter: Das Hongkong-Kulturfestival im Tacheles versucht, die andere, unbekannte Seite des Stadtstaates vorzustellen  ■ Von Beate Rusch

Der Countdown für die Kronkolonie Hongkong läuft, die große Uhr in Peking rückt unerbittlich vor. Bereits jetzt wurde unmißverständlich verlautbart, daß Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit im bisherigen Umfang mit der Wiedereingliederung ins Mutterland der Vergangenheit angehören werden. So überrascht es nicht, wenn ein großer Teil der Kunstszene Hongkongs über mehr als einen Paß verfügt. Emigration ist zu einem der Charakteristika des Stadtstaates geworden. Nun sind 20 KünstlerInnen zu Gast in dem selbst von der Räumung bedrohten Tacheles.

Die Kulturszene Hongkongs spielt sich in Nischen ab. Im Vergleich zu den glitzernden Hochhausfassaden, den architektonischen Meisterwerken, wirken Spielstätten wie das Hongkong Arts Center geradezu kläglich. Unter den Intellektuellen Hongkongs findet sich neben den Traditionalisten, die sich der klassischen chinesischen Kulturtradition verschreiben, auch ein Häuflein Künstler, die die Eigenständigkeit der Hongkonger Kultur gegenüber der das Mutterland dominierenden nordchinesischen vertreten. Einer, der diese Minderheit unterstützt, ist gleichzeitig Mitorganisator des Hongkong Festivals im Tacheles: Als Kunstkritiker begleitet Lau Kinwai schon seit Jahren die Kulturszene seiner Heimatstadt. Dazu gehören die eingeladenen FotografInnen, die in der Fotozeitschrift dislocations ihr Forum gefunden haben ebenso wie das Tanzprojekt DanceArt und die City Contemporary Dance Company. Im Tacheles wird auch die experimentelle Gruppe Dancing Stone zu sehen und zu hören sein – mit einer etwas leiseren Performance als die Punkrocker von Midnight Flight vermutlich.

Für Chinesen aus der Volksrepublik oder aus Taiwan ist Hongkong das Fremde, das Andere, schlicht eine Marginalie, die für die allgemeine Diskussion unbedeutend ist. Und taucht Hongkong in der Diskussion doch auf, dann als Inbegriff „kolonialer Mentalität, als dekadente Hölle des Kapitalismus“, in jedem Fall als unchinesisch und keinesfalls repräsentativ für das Reich der Mitte.

Ansichten über Hongkong entpuppen sich dann nur allzuoft als Blick auf die VR China, Taiwan oder die westliche Hemisphäre, je nachdem, wo man sich am ehesten zu Hause fühlt. Hongkong als eigenständige kulturelle Entität zu betrachten, wie es das Festival jetzt versucht, ist ein vergleichsweise neuer Ansatz, der nicht zuletzt durch die bevorstehenden politischen Veränderungen an Bedeutung und Popularität gewann.

Eine vom mächtigen Nachbarn China unabhängige Entwicklung nahm Hongkong schon in den sechziger Jahren, als sich die VR China, von der Kulturrevolution erschüttert, strikt nach außen abschloß. Nachrichten aus der Volksrepublik flossen nur spärlich, die Flüchtlingsströme nach Hongkong umso reger. Der Stadtstaat war zu dieser Zeit der Ort mit einer freien, kritischen Presse; ein Ort, an dem es auch die Literatur zu kaufen gab, die in China längst der Zensur zum Opfer gefallen war. Die Isolation tat ihren Teil zu dem, was Hongkong heute ist: Ein quirliges Handelszentrum, das auf den ganzen südostasiatischen Raum ausstrahlt. Ein Bauboom setzte ein, internationale Banken dockten an am „Duftenden Hafen“.

Seitdem dominiert ein ständiger Wandel, nichts scheint von Dauer, die nächste Transformation ist nur eine Frage der Zeit. „Wenn einer sich vornimmt, über diese Stadt zu schreiben, sollte er wissen, daß man hier nicht an die alte sozialistische Phrase von den ,Architekten der Seele‘ glaubt, daß man künstlerischen Entwicklungen hier nur wenig Platz einräumt“, resümiert der Schriftsteller Leung Pingkwan: „Verglichen mit anderen chinesischen Gemeinden hat Hongkong als Geschäftsstadt und ,kulturelle Wüste‘ weniger unter der politischen Einflußnahme auf die Kunst gelitten. Man überlebt oder stirbt für sich allein. Literatur wird in unauffälligen Literaturbeilagen von Zeitungen oder kurzlebigen, selbstfinanzierten Literaturzeitschriften veröffentlicht. Staatliche Unterstützung gibt es nicht, die Bevölkerung verhält sich Literatur gegenüber indifferent, für die Wissenschaftler ist Hongkong-Literatur kein salonfähiges Thema, die Literatur wird nicht gut gesammelt – und doch ist die Hongkonger Literatur lebendig.“

Was Leung Pingkwan als Kurzabriß zum kulturellen Verständnis in Hongkong formuliert, gilt vermutlich für alle Bereiche der Kultur. Auch Leung Pingkwan wird mit seinen Gedichten und einigen Prosastücken im Tacheles zu hören sein. Gemeinsam mit Sussy Chako, Tochter indonesisch-chinesischer Einwanderer, wird er das literarische Programm in Berlin bestreiten.

Angesichts eines erstarkten chinesischen Nationalismus, der auch in der Noch-Kolonie mehr Menschen auf die Straße treibt als ein Sit-in für Demokratie und Pressefreiheit, erscheint es fast als Provokation, auf einer eigenständigen Hongkong-Kultur zu bestehen, wie Lau Kinwai und seine FreundInnen es tun. Denn wenn es sie gibt, dann gehört Vielfältigkeit zu ihren stärksten Merkmalen.

Vom 15. bis 27. November, Tacheles, Oranienburger Straße 53–56, Vernissage heute abend 18.30 Uhr

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