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„Wir müssen die Arbeit radikal umverteilen“

■ Für den Vorsitzenden der IG Medien, Detlef Hensche, ist weniger das neue Grundsatzprogramm, sondern der Diskussionsprozeß im Gewerkschaftsbund entscheidend

taz: Herr Hensche, haben Sie die Orientierung verloren, oder warum wollten Sie die Beschlußfassung zum neuen DGB-Programm vertagen? Wissen Sie nicht mehr, wozu man Gewerkschaften braucht?

Detlef Hensche: Doch, das weiß ich schon noch. Aber wenn wir uns anschicken, ein Grundsatzprogramm zu verabschieden, das zehn bis 20 Jahre halten soll, dann müssen wir tragfähige Aussagen zu den ökonomischen und sozialen Umbrüchen treffen, die sich in den letzten Jahren mit rasanter Geschwindigkeit entwickelt haben und die sich aller Voraussicht nach noch weiter beschleunigen werden. Allein mit unserer herkömmlichen Gewerkschaftspolitik und mit unseren bisherigen Instrumenten kommen wir nicht weiter. Wir werden zum Beispiel die Arbeitslosigkeit nicht überwinden können, wenn wir uns nicht entschließen, eine radikale Umverteilung der Arbeit – auch in den eigenen Reihen – ins Auge zu fassen. Es geht auch darum, Abschied zu nehmen vom Normalarbeitsverhältnis als Regelfall. Das hat weitreichende Konsequenzen für das ganze soziale Sicherungssystem.

Glauben Sie, daß Sie dafür in zwei Jahren ein besseres Programm formulieren könnten?

Es geht nicht um die Formulierung, sondern darum, daß die Gewerkschaften einen Diskussionsprozeß brauchen, der die betrieblichen Erfahrungen aufgreift und anknüpft an das Bewußtsein der Funktionäre und Mitglieder in den Betrieben. Die notwendige Umverteilung der Arbeit findet noch keine breite Akzeptanz. Da müssen wir die Diskussion und Aufklärung erst noch nachholen. Die Plausibilität einer alternativen Arbeitszeitordnung ist noch nicht in den Köpfen der Menschen.

Weil die Gewerkschaften dafür nicht ausreichend werben?

Auch deshalb! Jahrzehnte eingeübte Abläufe und Gewohnheiten sind sehr stabil. Auch die Fixierung auf das Normalarbeitsverhältnis ist weit verbreitet. Da haben wir einen ebenso großen Nachholbedarf wie bei der Neubestimmung der Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern.

Beim Thema Flächentarifvertrag sieht es ebenfalls düster aus.

Wenn die Erosion des Flächentarifvertrages anhält, kommen wir in eine Situation, daß wir quasi in einer Art Häuserkampf von Betrieb zu Betrieb Tarifvereinbarungen durchsetzen müssen. Auf diese Situation sind wir noch nicht ausreichend vorbereitet. Das setzt nachhaltige organisatorische Veränderungen – etwa in Richtung Dezentralisierung – voraus. Dazu sagt das neue Programm nichts.

Es wird doch die Bereitschaft zu betriebs- und branchenspezifischen Abweichungen bekundet.

Das ist etwas anderes. Auch ich bin der Auffassung, daß man auf gewissen Feldern den Betrieben mehr Spielraum einräumen kann, aber damit kriegen wir keinen abtrünnigen Arbeitgeber wieder in den Verband zurück. Das sind Scheingefechte. Es sei denn, wir würden uns auf Öffnungsklauseln im Sinne von Gesamtmetall einlassen und die Arbeitszeiten und den Lohn aus dem Flächentarifvertrag lösen. Dann aber bliebe nicht mehr viel übrig von einem überbetrieblich verbindlichen Tarifvertrag.

Sehen Sie das Arbeitgeberlager schon endgültig auf diesem Kurs?

Wenn die Entwicklung aus den letzten drei Jahren so weitergeht wie bisher, dann werden wir uns schon in ein bis zwei Jahren gezwungen sehen, flächendeckend Firmentarifverträge abzuschließen. Ich sehe im Arbeitgeberlager zur Zeit keine Kräfte, die sich dieser Entwicklung entgegenstellen. Es findet eine Brutalisierung des Wettbewerbs statt. Früher galt vielen Unternehmern jede Form von Tarifdumping als höchst unfein. Diese Übereinkunft gilt heute nicht mehr.

Für Betriebe ohne hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad sieht es dann düster aus.

Ja, es sei denn, wir finden Wege, in den schwach organisierten Betrieben stark zu werden.

Der IG-Chemie-Chef Hubertus Schmoldt hat von einer neuen programmatischen Qualität gesprochen, weil der DGB sich mit dem neuen Programm zur gesellschaftlichen Realität bekenne und nicht mehr Alternativen zu den „wesentlichen Strukturelementen dieser Gesellschaft“ anstrebe. Hat der DGB die Wende vollzogen?

Nein! Natürlich gab es gewisse Versatzstücke einer alternativen Wirtschaftsordnung im alten Programm, die jetzt nicht mehr auftauchen. Dazu gehört die Forderung nach Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien, die aber niemals die praktische Politik bestimmt hat. Gewiß, wir erkennen an, daß gegenwärtig Realisierungschancen zur Entwicklung einer herkömmlichen Alternative zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung nicht gegeben sind. Einige Streitereien und Flügelkämpfe, die dazu in den letzten Monaten geführt worden sind, waren in der Tat Schlachten von gestern. Das heißt aber nicht, daß wir alle destruktiven Elemente der realexistierenden Marktwirtschaft als quasi unabänderlich hinnehmen.

Grundsätzliche Alternativen formuliert der DGB nicht mehr.

Das sehe ich anders. Wir haben zahlreiche Forderungen formuliert, die darauf abzielen, dem freien Spiel der marktwirtschaftlichen Kräfte regulierende Grenzen zu setzen. Was wir etwa zum Sozialstaat formulieren, steht in eklatantem Widerspruch zum wilden, entfesselten Kapitalismus. Insofern erkennen wir die herrschende Realität auch nicht an.

Kommt dem jetzt beschlossenen Programm bei der Bewältigung der Zukunftsfragen irgendeine Bedeutung zu?

Trotz meiner grundsätzlichen Bedenken bewerte ich es als positiv, daß wir unter dem Dach des DGB einen Konsens gefunden haben. Von dem politisch äußerst fragwürdigen ersten Entwurf ist ja nicht viel übrig geblieben. Es wäre mir zwar lieber, wenn über diesem Dokument nicht Grundsatzprogramm stünde, aber auf diesem Kongreß ist ja deutlich geworden, daß wir die brennenden Themen jetzt weiter diskutieren wollen. Dabei müssen wir auch Tabus brechen. Voller Lohnausgleich bei Arbeitszeitverkürzung ist ein Tabu, die Grundsicherung auch.

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