piwik no script img

Russisch ist die Amtssprache

Dank seiner Stars Valeri Belenki und Sergej Fedortschenko dominiert der alte und neue Meister WKTV Stuttgart die Turn-Bundesliga  ■ Aus Schiltach Jürgen Roos

„Dawai“ ruft Valeri Belenki quer durch die Halle. Sergej Fedortschenko tut, wie ihm geheißen, rennt diagonal über die Bodenfläche los und dreht einen gestreckten Doppelsalto rückwärts. Kurz bevor Fedortschenko wieder die Gesetze der Schwerkraft befolgt, ruft Belenki erneut etwas. Diesmal „stoi“. Was soviel heißt wie „steh“ und die regelgerechte Landung des Riegenkollegen fördern soll. Russisch ist bei den Turnern der WKTV Stuttgart schon längst zur Amtssprache geworden. Im schwarzwäldischen Schiltach besiegten die Stuttgarter am Samstag vor 1.200 Zuschauern den SC Cottbus und holten bereits zum dritten Mal hintereinander den deutschen Mannschaftsmeistertitel. Die Glückwünsche des Trainers klangen ebenfalls osteuropäisch. Coach Anatoli Jarmowski ist der einzige „echte“ Russe bei der WKTV, der Württembergischen Kunstturn-Vereinigung.

Valeri Belenki ist dank eines deutschstämmigen Großvaters schon seit zwei Jahren Bürger dieser Republik, Sergej Fedortschenko ist Kasache und nimmt bei den Stuttgartern den Ausländerplatz ein. Und Anatoli Jarmowski hat gar schon seit acht Jahren einen Trainervertrag beim Schwäbischen Turnerbund (STB). Daß die WKTV in den vergangenen acht Jahren fünfmal Meister wurde, daran hat die sportliche Entwicklungshilfe aus dem ehemaligen Sowjetreich freilich wesentlichen Anteil. Was die deutschsprechende (Mehrheits-) Fraktion bei den Schwaben auch unumwunden zugibt.

Im Kunstturnen, jener filigran- ästhetischen Gratwanderung zwischen Kraft, Gleichgewichtsgefühl und Schwerkraft, haben die Athleten und Trainer aus der ehemaligen Sowjetunion das Sagen – nach wie vor. Die Kunstturn-Bundesliga, die seit zwei Jahren einen Ausländer zugelassen hat, dokumentiert diese Tatsache eindrucksvoll. Zweimal wurde jene Riege Meister, die den stärksten und beständigsten Osteuropäer verpflichtet hatte. Bei den Stuttgartern turnte zunächst der sechsfache Olympiasieger Vitali Scherbo aus Weißrußland, jetzt Fedortschenko aus Kasachstan. Und trotzdem soll hier nicht verschwiegen werden: Die Turner aus der zweiten Reihe, die im Mannschaftswettbewerb Bundesliga mindestens ebenso wichtig sind, heißen bei der WKTV Stuttgart Billerbeck, Mai, Moser, Zimmermann und Kern, sind waschechte Baden-Württemberger und glänzten im entscheidenden Wettkampf gegen den SC Cottbus mit derselben Beständigkeit wie die beiden Stars.

Die Bundesliga-Klubs beglückwünschen sich noch heute zu der Entscheidung für das Ausländerstartrecht. Die internationalen Spitzenleute kosten nicht viel und bescheren im Gegenzug Schlagzeilen und Zuschauer. Mickrige 10.000 Mark plus Kost und Logis bekommt Fedortschenko, 15.000 Mark der ukrainische Olympiadritte Alexander Swetlichny in Diensten des SC Cottbus. Geben und Nehmen: Mit dem Geld aus Deutschland sind die jungen Turner in ihrer Heimat reiche Leute. Fedortschenko kaufte sich eine Wohnung und seinen Eltern ein Haus in Alma Ata. Vor dem 5. Januar, dem Tag der Rückkehr in seine Heimatstadt, fürchtet er sich allerdings heute schon. „Ich habe keine Lust, wieder nach Hause zu fahren“, sagt der 22jährige, „weil es hier in Deutschland so schön ist.“ Schön ruhig, schön sicher, schön friedlich und schön normal soll das wohl heißen. Ihm bleibt nur die Hoffnung, im nächsten Jahr wieder in Stuttgart turnen zu „dürfen“.

Was nicht unbedingt garantiert ist: Denn trotz Zuschauerboom und tollen Turnern leidet die Liga an akutem Geldmangel. Die Sponsoren halten sich zurück, aus dem Fernsehvertrag des Deutschen Turnerbundes (DTB) mit dem Deutschen Sportfernsehen bekommt jeder Bundesligist lächerliche 1.600 Mark pro Saison. Die Folgen: Der SV Halle, die Nummer drei unter Deutschlands Turnvereinen, konnte die 15.000 Mark für den ukrainischen Ex-Weltmeister Igor Korobtschinski nicht mehr aufbringen, Meister Stuttgart beendet die Runde mit einem 30.000-Mark-Defizit. In Frage stellt die Bundesliga trotzdem niemand. „Wie sollen wir uns gegen andere Sportarten durchsetzen, wenn wir das Turnen mit seinen Stars nicht regelmäßig den Kindern und Jugendlichen präsentieren“, fragt Bernd Heide, Turn- Chef beim SC Cottbus. Das Schicksal einer Randsportart.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen