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Wahrscheinlich sinken die Schiffe nicht

Nüchterner als Ulrich Beck: In seinem Buch zur Risikogesellschaft führt der Soziologe Wolfgang Bonß durch die Geschichte der „Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne“ – die Gefahr lauert vor allem in sozialen Ambivalenzen  ■ Von Jörn Ahrens

Was ein Risiko ist, erlebt heute jeder jeden Tag. Vom absichtsvollen Überfahren einer roten Ampel bis hin zur Entscheidung über geschäftliche Investitionen oder den Abschluß einer Lebensversicherung ist der Alltag von Momenten des Risikos durchsetzt. Diese Momente erfordern eine Entscheidung. Sie sind so beschaffen, daß die Menschen den Gehalt an Gefahr, den sie bergen, kalkulieren können, und die positive oder negative Entscheidung, sich aufs Risiko einzulassen, sagt etwas über den Gefährdungsgrad aus, den ihm der einzelne zuschreibt.

Das Risiko als Alltags- respektive Gesellschaftsphänomen erweist sich derart als handhabbar, und daß seine Kalkulation zu jedem möglichen Nachteil desjenigen, der da etwas riskiert hat, fehlgehen kann, liegt in der Sache selbst, ja, es macht überhaupt erst das Besondere des Risikos aus – es kann gutgehen, muß es aber nicht. Risiko und Kalkulation gehören ursächlich zusammen.

Daß das bewußt gehandhabte Risiko, das seinen Weg in den Alltag der Menschen gefunden hat, einer der Faktoren war, die am Ursprung der bürgerlichen Gesellschaft standen, und daß es auch noch die gegenwärtige mitprägt – die zwar keine bürgerliche mehr sein will, deren Schuhen aber dennoch nicht entwachsen ist –, ist Thema des zuletzt erschienenen Buches von Wolfgang Bonß.

Zehn Jahre nach der großen Euphorie, mit dem Risiko eine Kategorie gefunden zu haben, aus der heraus alle sozialen Ambivalenzen, Phänomene und Dubiositäten sich erklären lassen sollten, legt Bonß sein Buch vor – in einer Zeit, da ins Bewußtsein tritt, daß neben so ungeheuer postmodernen Erscheinungen wie Globalisierung der Ökonomie und dem Vordringen der Virtual reality bis hinein in jedes Wohnzimmer, auch längst als archaisch überwunden geglaubte Problemlagen, wie die schwebende Xenophobie im Lande, die internationale „Rückkehr der Stämme“ und die Abwicklung des Wohlfahrtsstaates, wieder akut geworden sind. Damit, daß alles im Leben und in der Gesellschaft irgendwie riskant sei, daß man lernen müsse, mit dem Risiko als einer neuen, die Welt zusammenhaltenden Metaphysik zu leben, wie es damals bei Ulrich Beck zu lesen war, kann man heute keine Lorbeeren mehr gewinnen.

Das versucht Bonß auch nicht, seine Studie ist nüchtern und an der Sache orientiert. In drei große Abschnitte unterteilt, sucht sie dem Risiko in der Moderne nachzuspüren und damit ihren Beitrag zu einer Theorie der Moderne zu leisten. Zunächst wird ein Einblick in die „Perspektiven und Grundbegriffe“ einer Risikosoziologie gegeben. Hilfreich ist hier die Unterscheidung zwischen „Ungewißheit, Risiko und Gefahr“. „Gefahren“ etwa „sind subjekt- und situationsunabhängig“; sie werden prinzipiell negativ bewertet und finden sich deshalb vor allem in bezug auf Naturereignisse, zum Beispiel als ein Sturm auf hoher See, wieder. „Unsicherheiten“ hingegen sind sowohl das Resultat von objektiver Erfahrung als auch soziales Konstrukt. Sie weisen darauf hin, wie kulturell jeweils mit den Phänomenen der Gefahr umgegangen wird. „Risiken“ sind schließlich die Entscheidung dafür, eine Situation an Unsicherheit zur Folie von Handlungen zu machen. „Unsicherheiten vom Typus ,Risiko‘ entstehen nur nach Maßgabe von Handlungsabsichten und deren Umsetzung.“ Sie sind, „gerade weil sie handlungsunabhängig sind, nicht nur Bedrohung, sondern auch Chance. Sie einzugehen bedeutet, etwas qua Entscheidung auszuprobieren.“ Das ist zum Beispiel der Fall, wenn ein Kaufmann seine Handelsschiffe losschickt, obwohl die Gefahr eines Sturmes auf See besteht. Denn die Wahrscheinlichkeit, daß die Schiffe sinken werden, ist kalkulierbar.

Im zweiten Abschnitt führt Bonß folgerichtig durch die Sozialgeschichte des Risikos – von den Kaufleuten des 16. Jahrhunderts bis hin zur modernen Versicherungsgesellschaft. Es ist nur logisch, daß die Integration des Risikos in die sozialen Alltagspraktiken auch das Bedürfnis nach Sicherheit jenseits allgegenwärtiger Risikolagen erhöht hat. Das ist zwar noch keine Dialektik, aber das Bild einer Gesellschaft speist sich in der Regel nicht zuletzt aus diversen Dichotomien. Sicherheit und Unsicherheit gehen dabei freilich durcheinander. Wer der staatlich gewünschten Sicherheit im großen Lauschangriff an der eigenen Haustür gern Einhalt gebieten möchte, muß deshalb nicht gegen rigide Sicherheitsvorkehrungen in der Industrie sein.

Am Ende widmet sich Bonß dem „Umgang mit Ungewißheit in der modernisierten Moderne“. Sein Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem Umgang der Wissenschaft mit Risiken. Dies ist der wohl schwächste Teil des Buches und doch, wegen seines Aktualitätsbezugs, nicht der unwichtigste. Bonß' Programm ist letztlich darauf abgestellt, sich weiterhin dem Risiko als einem innovationsfreudigen Phänomen nicht zu versagen, gleichwohl aber die Prävention und Kontrolle auszubauen. Eine Gesellschaft wie die gegenwärtige aber, die sich selbst nicht mehr kennt, die ihren alten Namen – ob bürgerlich oder kapitalistisch oder sozialistisch – aufgegeben hat, ohne schon einen neuen zu besitzen und die nicht weiß, wohin irgend ihre Reise gehen wird, ist sich selbst zum Risiko geworden. Die Risiken sind nicht mehr Teile eines Handlungspools, den sie umschließt und dem sie als Institution noch Grenzen geben kann, die Übersichtlichkeit und nicht zuletzt ein Maß an Sicherheit vermitteln. Vielmehr ist das Risiko derart zur Kennzeichnung dieser Epoche und ihrer alltäglichen wie historischen Veränderungen geworden, daß es als Kategorie der Analyse bald schon wieder obsolet ist. Wo alles Risiko ist, braucht man Instrumente, die das Risiko analysieren und nicht beschreiben; wo die ganze Gesellschaft ein Risiko ist, muß man nicht einzelne Risiken in ihr untersuchen, sondern sie selbst als ein Risiko. Dafür aber benötigt man Kategorien, die sich nur jenseits der des „Risikos“ finden lassen.

Wolfgang Bonß: „Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne“. Hamburger Edition 1995, 358 Seiten, 48 DM

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