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Frachtnummer 02011794112 Von Carola Rönneburg

Viel wäre mir erspart geblieben, hätte ich F.W. Bernsteins Buch „Die Stunde der Männertränen“ nicht in der Mitte zu lesen begonnen. Heute weiß ich: Sein Schicksalsreport „Luftfracht“ steht absichtlich ganz vorn. „Luftfracht“ warnt vor dem Bösen.

Meine Begegnung mit dem Bösen beginnt an einem sehr frühen Novembermorgen. Auf dem Luftfrachthof Tegel war ein Animationsfilm aus Prag für mich hinterlegt, den ich am Abend in Wiglaf Drostes „Benno-Ohnesorg-Theater“ an der Berliner Volksbühne zeigen wollte. Wie man trotz Beschilderung nicht mit Bus und U-Bahn zum Frachthof gelangt, entnehmen Sie bitte der „Stunde der Männertränen“ – machen Sie jetzt mit mir einen Zeitsprung in das Büro der Lufthansa-Cargo: Männer mit aufgerollten Ärmeln statteten mich flink mit einem rosa Formular aus, und schon war ich auf dem Weg zum Zoll.

In der mit Zollhundepostern, Zollwitzen und Zolldienstplänen geschmückten Zollstube fühlte ich es zum ersten Mal: das Böse. „Ja, Frau Rönneburg. Ein Film also? Aus Prag? Was können Sie mir denn über den Film erzählen?“ Was wollte der Mann hören? Eine Kurzkritik? „Es ist ein Zeichentrickfilm...“

Ha! Nun sollte ich den Verwendungszweck dieses Zeichentrickfilms erklären. Wollte ich ihn a) behalten, b) verkaufen und/oder c) ausführen? Ich brach sofort zusammen und sagte alles: Volksbühne, Publikum, heute abend etc. „Dann müssen Sie eine Zollerklärung ausfüllen ... Wenn Sie das allerdings noch nie gemacht haben“, warnte mich der Beamte, „kostet Sie das wahrscheinlich vier bis fünf Stunden.“ Und helfen würde er mir auch nicht. Ein normaler Mensch wie ich, der besser gleich in den ersten Stock des Frachthofes, wo mir – gegen eine Gebühr – sicherlich eine Speditionsfirma behilflich sein würde.

So war es: „Kommen Sie in einer Viertelstunde wieder, das macht dann sechzig Mark.“ Kurze Taxifahrt zum Geldautomaten und zurück zur Spedition, zwanzig Mark. Runter ins Zollamt, Bescheid des Fürsten der Formulare: „Scheint in Ordnung zu sein.“ Etwas später großmütige Bestempelung meines grünweißen Zollantrags; Extrablatt und doppelter Stempel berechtigen zum Warten auf computergestütztes Zusatzformular (weiß). Damit zum Zahlkassenwart, dritter Gang links, hier fünfzig Mark gegen Quittung mit Durchschlag „für das BCS-Büro“. Dort Tausch einer Quittungshälfte gegen Abholschein und Wegbeschreibung Lagerhalle.

Es muß am frühen Nachmittag gewesen sein, als ich seltsam abgestumpft in der Lagerhalle betrachtete, wie Speditionskaufmänner und -frauen johlend und tanzend Päckchen in einen großen Topf warfen, der mit siedendem Öl gefüllt war. Schwefelgeruch und Gekicher erfüllten die Luft. Hinter einem Regal wurde ein Mann gezwungen, seine Zollerklärung aufzuessen. Während er den letzten Fetzen hinunterschluckte, fragte ihn ein Unterzollteufel höhnisch nach seinen Dokumenten. „Bitte schön, Ihre Sendung!“ riß mich eine Stimme aus der Wirklichkeit.

Wenige Stunden später erhielt der achtminütige Zeichentrickfilm der Prager Regisseurin Michaela Pavlatova freundlichen Applaus. In der Nacht aber las ich das Gesamtwerk F.W. Bernsteins von der ersten bis zur letzten Seite.

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