: Alltag in der Übergangsfabrik
Nach nur acht Jahren schließt der Hi-Fi-Konzern JVC sein Werk in Lothringen – in Frankreich sind die Subventionen aufgebraucht ■ Aus Villers-la-Montagne Dorothea Hahn
Der vergoldete Kassettenrekorder, der einmillionste „made in Villers- la-Montagne“, steht noch im Vorraum der Direktion. An der Wand dahinter hängen die Fotos von anderen Zweigstellen des japanischen Unterhaltungselektronikherstellers JVC – flache, schnell aufgestellte Fabrikgebäude in Malaysia, China und Singapur. Die neue Anlage bei Glasgow ist nicht abgebildet.
Dabei liegt dort die europäische Zukunft von JVC – oder zumindest das, was davon noch bleibt. Denn in Schottland will das Unternehmen ab Januar seine europäische Hi-Fi-Produktion konzentrieren. Eine Subvention für die Niederlassung in dem strukturschwachen Gebiet hat es bereits bekommen. Gleichzeitig wird das lothringische Werk geschlossen – acht Jahre nach seiner Eröffnung sind dort die Subventionen aufgebraucht. Die 243 ArbeiterInnen werden entlassen.
„Villers-la-Montagne ist unsere beste Fabrik“, hatte Anfang 1995 einer der japanischen Direktoren gelobt. Wenige Monate später hatte er die lothringische Kleinstadt verlassen. „Versetzung an einen anderen Standort“, lautete die offizielle Begründung.
Betriebsratssprecherin Isabelle Banny ahnte damals bereits, daß „irgend etwas“ nicht stimmte. Denn obwohl der europäische Hi- Fi-Markt tief in der Krise steckte, hatte die japanische Unternehmensleitung noch Anfang 1995 ein neues Werk in East Kilbride bei Glasgow eröffnet, das neben Fernsehern auch Hi-Fi-Anlagen wie in Villers-la-Montagne bauen sollte.
In der „Zone“, wie die Industrieansiedlung am Ortsrand von Villers-la-Montagne im Volksmund heißt, machte sich Angst breit. Die Frauen an den Fließbändern von JVC, die einst täglich bis zu 1.200 Apparate gelötet und zusammengesetzt hatten, und die Handvoll Männer an den technischen Kontrollstellen merkten, daß das Arbeitstempo nachließ, daß einzelne Produkte – darunter die Autoradios – ganz aus dem lothringischen Programm verschwanden und daß sich die Lagerbestände ständig erhöhten. Heute kriechen die Fließbänder nur noch im Schneckentempo. Zwischendurch sind sie ganz abgestellt, und die Arbeiterinnen schieben die Teile per Hand zur Kollegin weiter. Pro Tag produzieren sie noch 100 Stereo-Anlagen.
Auf diese Minimalproduktion haben sich Unternehmensleitung und Betriebsrat nach dem 10. Oktober verständigt, als klar war, daß bald ganz Schluß sein würde. Vorausgegangen war ein schneller und brutaler Abstieg. Am 5. September war die Mitteilung der Zentrale gekommen, es ginge schlecht in Villers-la-Montagne. Die Nachfrage sinke und das Werk sei nicht mehr konkurrenzfähig. Dann war am 1. Oktober die Kurzarbeit gefolgt. Seither schließt die Fabrik jeden zweiten Mittwoch und jeden Freitag, und den Lohnausfall bezahlt der Staat.
„Das war alles von langer Hand geplant“, ist Isabelle Banny überzeugt. Und Aline Radosevic, ebenfalls Fließbandarbeiterin und Betriebsratsmitglied bei JVC, fügt hinzu: „Es geht um jede Menge Kohle. Erst haben die hier abgesahnt, was sie kriegen konnten. Jetzt wiederholen sie dasselbe in Schottland. Sie nennen das Globalisierung.“
Seit der Schließungsankündigung ist ein ständiges Kommen und Gehen in dem Betriebsratsbüro im ersten Stock über der Fabrikhalle. Das Bild einer Gewerkschafterin aus der ostfranzösischen Industriestadt Sochaux, die sich das Leben nahm, als ihr Unternehmen schloß, klebt an der Eingangstüre. Auf einer Tafel sind Interviewtermine mit Fernsehsendern und Zeitungen eingetragen. Um einen großen weißen Tisch sitzen zehn Frauen in knielangen weißen Arbeitskitteln.
In den knapp vier Wochen seit der Hiobsbotschaft haben sie gelernt, mit den Medien umzugehen. Ihre mehrstündige Geiselnahme der Geschäftsführung war einen Tag lang Titelthema. Ihre Pressekommuniqués – Tenor: „Subventionsschwindel“ – erklären verständlich die Zusammenhänge zwischen europäischer Politik und der Abwanderung der Industrie. Ihre Auftritte auf linken Versammlungen – Motto: „Wenn ihr die Verlagerung von JVC nach Schottland erlaubt, können in Frankreich bald alle Fabriken zumachen.“ – sind mitreißend. Und ihre erklärte Absicht – „wir vertreiben JVC vom Markt, wenn es Frankreich verläßt“ – ist beeindruckend.
Bloß im eigenen Unternehmen haben die LothringerInnen keine Resonanz. Sie haben es nicht einmal geschafft, Kontakt zu den Belegschaften der anderen JVC-Niederlassungen in Europa herzustellen, zu der Fernseh- und Hi-Fi-Fabrik in Schottland und zu der Video-Fabrik in Berlin, wo JVC seit Jahren die Belegschaft reduziert. „Wir wollten einen europäischen Betriebsrat gründen, aber das Unternehmen hat das verschleppt“, begründet Isabelle Banny, „jetzt ist es zu spät.“
„Möglicherweise haben die Schotten und die Berliner auch viel zuviel eigene Sorgen, um an uns zu denken“, gibt eine Betriebsratskollegin zu bedenken. „In Schottland liegen die Löhne 30 Prozent unter unseren“, sagt eine andere. „Es gibt dort keine Gewerkschaften“, behauptet eine dritte. „Die dürfen nicht einmal streiken“, will eine vierte gehört haben.
Die Frauen vom Fließband in Villers-la-Montagne verdienen im Schnitt 6.500 Francs brutto, etwa 1.900 Mark. Viele sind alleinerziehende Mütter, fast alle Anfang 30. Als sie bei JVC anfingen, fielen sie unter die Rubrik „jugendarbeitslos“, weshalb der Betrieb weniger Abgaben zahlen mußte. Bei manchen Frauen zahlte das Arbeitsamt sogar komplette Anfangslöhne als „Wiedereingliederung“.
Bevor sie bei JVC anfing, hatte Catherine Leblan eine befristete Stelle als Sekretärin – am Ende fiel dem Unternehmen auf, daß die Finanzdecke zu dünn für eine Festanstellung war. Maria Lamagra war Praktikantin in einem Rathaus – sie scheiterte am Einstellungsstopp im öffentlichen Dienst. Aline Radosevic bediente bei einer Tankstelle – bis die Selbstbedienung eingeführt wurde.
Von der beruflichen Stabilität, den guten Löhnen und den starken Gewerkschaften aus der Zeit ihrer Eltern ist ihrer Generation nichts geblieben. Bis in die 70er Jahre gingen in Lothringen die jungen Männer ins Bergwerk oder arbeiteten an einem Hochofen, und viele Frauen waren in dem breitgefächerten Einzelhandel beschäftigt. Dann schlug die von Paris und Europäischer Gemeinschaft beschlossene „Umstrukturierung“ der Montanindustrie ein. Fast alle Fabriken machten dicht. Von den 24.000 Arbeitsplätzen, die es 1960 in der Montanindustrie im „Becken von Longwy“ gab, wozu auch Villers-la-Montagne gehört, sind heute noch 700 übrig. In Frankreichs einstigem industriellen Kernland überwucherte Unkraut die Kohlehalden und die Förderbänder verrosteten.
Aline Radosevics Vater ging 1985 mit 54 Jahren in Frührente, der Vater ihrer Kollegin Astrid Valgonio mit 48. Mit nicht einmal Mitte 30 werden jetzt ihre Kinder Opfer der nächsten Krise in Lothringen. Der „Umstrukturierung“ der 70er und 80er Jahre ist die Globalisierung gefolgt.
Nachdem die von den Politikern angekündigten neuen wirschaftlichen Perspektiven ausblieben, hatten die drei „unstrukturierten“ Länder – Frankreich, Belgien und Luxemburg – zusammen mit der Europäischen Gemeinschaft ein Krisenprogramm beschlossen. „Europäischer Entwicklungspool“ nannten sie das 1986 gegründete grenzübergreifende Programm, das mit Subventionen Investoren in die Region holen und binnen zehn Jahren 8.000 neue Arbeitsplätze schaffen sollte.
Seither ist eine neue Art von Arbeitsplätzen in einer kurzlebigen Industrie in die Region gekommen. Vor allem Elektronikhersteller aus Fernost und Europa stellen ihre Fließbänder in den flachen Fabrikhallen in den neuen „Industriezonen“ an den Rändern der alten Bergwerksorte auf. Viele von ihnen verschwinden schon wenige Monate später wieder – darunter das französische Unternehmen „Thomson“, das vor JVC in derselben Halle produzierte. „Übergangsfabriken“ nennt Betriebsratssprecherin Isabelle Banny das Phänomen.
JVC ist nicht das einzige kriselnde Unternehmen in der „Zone“ von Villers-la-Montagne, wo mehrere Nachbarn bereits Kurzarbeit angekündigt haben. Andere verstecken ihre Probleme noch, und die ArbeiterInnen sind auf Gerüchte angewiesen. Gegenwärtig heißt es, die Gummidichtungsfabrik habe Absatzschwierigkeiten, und auch die Fernsehbildschirmhersteller steckten in Schwierigkeiten.
„Wir sind alle JVCler“, skandieren die 243 ArbeiterInnen auf ihren Demonstrationen. Sie wollen nicht akzeptieren, daß die 23 Millionen Francs (rund 7 Millionen Mark) Subventionen, die JVC in Villers-la-Montagne kassiert hat – davon ein Drittel von der Europäischen Union und zwei Drittel von Frankreich –, sowie die Zuschüsse des Arbeitsamtes ein Geschenk an das japanische Unternehmen bleiben. Genausowenig wie die 0,8 Millionen Mark, die JVC jetzt in Schottland bekommen hat. „Der Staat und die Europäische Union müssen Bedingungen stellen, wenn sie dem privaten Kapital öffentliche Gelder geben“, sagt Isabelle Banny, „zumindest muß es Arbeitsplatzgarantien geben.“
Die Mitglieder der Direktion am anderen Ende der Fabrikhalle führen an diesem Tag einen neuen Übernahmeinteressenten durch die Fabrikhalle, in der JVC das komplette Mobiliar sowie die Maschinen für einen symbolischen Preis hinterlassen will. Dieser Interessent würde in Villers-la-Montagne Compactdiscs herstellen. Das böte zwar auch keine langfristige Perspektive, aber zumindest eine zeitgemäße Lösung, meint die JVC- Direktion. Denn heute müsse man in den Kategorien des „schnellen Wandels“ denken, die Tradition des Familienbetriebes über mehrere Generationen sei „veraltet“.
Der Personaldirektor von JVC sitzt kettenrauchend auf einem Plastikstuhl in einem winzigen Konferenzraum und weist alle Vorwürfe des Betriebsrates von sich. Von einer Verlagerung in ein Billiglohnland könne gar keine Rede sein, sagt er. Von Subventionserschleichung schon gar nicht. Zum Beweis des Gegenteils liest der Manager, der nicht namentlich in der Zeitung genannt werden will, Zahlen aus einem Fax vor. Danach hat das japanische Unternehmen JVC in seinen acht lothringischen Jahren 240 Arbeitsplätze geschaffen, 1,15 Milliarden Francs (rund 350 Millionen Mark) Umsatz gemacht. Wieviel dabei für JVC herausgekommen ist – ob Gewinne und Verluste –, mag er nicht verraten: „Das ist dann doch ein wenig vertraulich.“
Grund für den Abzug von JVC aus Villers-la-Montagne seien sinkende Preise und Absatzrückgang sowie die niedrigeren Produktionskosten der Konkurrenz. Dann besiegelt er das Schicksal der neuen JVC-Fabrik in East Kilbride und möglicherweise auch des Berliner JVC-Werkes mit eindeutigen Sätzen: „Asien übernimmt die Staffel. Heutzutage ist es selbstmörderisch, Hi-Fi in Europa zu produzieren.“
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