■ Heute beginnt der SPD-Jugendparteitag. Doch das Problem ist nicht die Jugend, sondern die SPD-Führung. Denn die Enkelgeneration pflegt bloß rebellische Posen: Das schwierige Erbe von 1968
Daß die Sozialdemokraten ein Problem mit der Jugend haben, das sagt inzwischen sogar der SPD- Parteivorstand. Abhilfe sei zu erwarten von einem speziellen Jugendparteitag, auf dem ein 262 Punkte umfassendes „jugendpolitisches Memorandum“ beschlossen werden soll. Doch das Problem der SPD in den 90er Jahren ist nicht ihre Jugendpolitik und auch nicht „die Jugend“, sondern die Politik der SPD. Das Jugendproblem ist ein davon abgeleitetes.
Wer sich selbst nicht imponiert, macht auch bei anderen keinen Eindruck. Gefällt sich die SPD? Nichts weniger als das. Sie ist vielmehr dabei, sich selbst zum höchsten symbolischen Ausdruck einer politischen Haltung im Volk zu entwickeln, deren bürgerlicher Name „Politikverdrossenheit“ lautet.
Und sie verbreitet Tristesse, nicht nur Langeweile: Die schöne Zeit der Wohlstandspolitik, der steigenden Lebensqualität sei vorbei. Wir sollten dankbar sein, daß uns einige der guten Menschen vom sozialdemokratischen Establishment in ihrer erprobt rebellischen Pose schonungslos ehrlich die Wahrheit sagen: Sie selbst, die graumelierten Altjusos, die heute 50- bis 55-jährigen Berufspolitiker, und ihre Generation stellen eben leider den Höhepunkt und Abschluß einer gesellschaftlichen Entwicklung hin zum besseren Leben dar. Schluß, aus. So wie die Dinge liegen, sei heute gegen Verschlankung, Anpassung und Globalisierung kein Kraut und keine Partei gewachsen. The party is over. Ist die SPD überflüssig? Kein Fortschritt mehr möglich, nirgends?
Tatsächlich wird in diesem Land der gesellschaftliche Reichtum, privat erwirtschaftet und angeeignet, nicht weniger, sondern immer noch mehr. Damit stellt sich die klassische soziale Frage, die Frage nach der Teilhabe aller, nach der gerechten Verteilung – zwischen Ärmeren und Reicheren, Jüngeren und Älteren, privat und Staat. Aber die SPD traut sich kaum, diese Frage aufzuwerfen.
Askese war nie und ist nicht das Programm der sozialdemokratischen Partei. Wer den Nachwachsenden Verzicht predigt, wirbt für das Fortbestehen der herrschenden Verhältnisse. Daran ändert sich auch nichts, wenn diese Askese-Programmatik modisch mit den ökologischen „Grenzen des Wachstums“ begründet wird. Denn es dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben, daß Verbesserung der Lebensqualität und die Quantität des Ressourcenverbrauchs so wenig identisch sind wie konjunkturelles Wachstum und Schaffung von Arbeitsplätzen.
Ein weiterer Grund für die mangelnde Attraktivität der Partei ist wohl, daß das Selbstverständnis der SPD in den 90er Jahren erheblich durch politische Muster der 68er Revolte geprägt ist. Zu diesem Traditionsbestand zählt die Ablehnung des Staates als repressiv, der Protest als Ideal linker Politik (Bewegungen, die ständig gegen autoritäre Ordnungen kämpfen müssen) und das unbedingte Primat der Individualität – gegen Spießigkeit und Konformismus, gegen gesellschaftlich vermittelte Werte. All dies gehört nach wie vor zum politisch-kulturellen Habitus der Linken, auch der sozialdemokratischen Pragmatiker nach dem dritten Bier. Aber ist es eigentlich die richtige linke Identität?
Denn was 1968 seinen guten Grund gehabt haben mag, ist heute obsolet. Vielen Problemen ist mittels Veröffentlichung durch Protest längst nicht mehr beizukommen, und viele Altjusos sind inzwischen Minister. Ob Umweltverschmutzung oder Massenarbeitslosigkeit – gefordert ist ein handlungsfähiger Staat, der Probleme löst. Und da ist der 68er Habitus eher hinderlich.
Hinzu kommt wirtschaftspolitische Verzagtheit. Das sozialdemokratische Versprechen etwa, binnen vier Jahren die Arbeitslosenzahl in Deutschland halbieren zu wollen, tönt hohl, wenn neben den indirekten Instrumenten der Beschäftigungspolitik (Lohnnebenkosten senken, Teilzeit- und Existenzgründungsoffensive) nicht der garantierte Beschäftigungseffekt eines direkten staatlichen Arbeitsbeschaffungsprogramms steht. Aber was die Staatspartei SPD – in 13 Bundesländern an der Regierung – sich selbst nicht mehr zutraut, traut sie auch dem Staat nicht zu. In der neuen Richtungslehre der Enkelgeneration scheint keynesianische Arbeitsmarktpolitik ein „rechtes“ und Haushaltskonsolidierung ein „linkes“ Instrument zu sein.
Auch was die Werte angeht, ist 1968 kein brauchbarer Kompaß mehr. Ist das, was unsere Gesellschaft heute kaputtmacht, nicht weit eher das Unvermögen, sich überhaupt noch auf einige gemeinsame Maßstäbe zu verständigen, als das Problem übergroßer Normenkonformität? Links sein bedeutet historisch eben nicht „Soll doch jeder machen, was er will“, sondern: „Es soll allen besser gehen“. Eine sozialdemokratische Partei ohne Fortschrittshoffnung wäre ein Widerspruch in sich.
Dabei ist nicht jede individuelle Lebensverbesserung gleich wichtig – es gibt jenseits von sozialdemokratischen Milieumodellen, demoskopischen Befindlichkeiten und postmodernem Populismus durchaus ein Maß für den Fortschritt: Das ist die Qualität des normalen Lebens. Die Sozialdemokraten werden nicht darum herumkommen, einen Hauptadressaten ihrer Politik zu benennen. Diejenigen, auf die es ankommt, sind – mit einer Formulierung von Bill Clinton – jene, „die in unserem Land die Kinder großziehen, die Arbeit machen, die Steuern zahlen und sich an die Regeln halten“. Die neolinke Beliebigkeit des „Jedem wohl und keinem weh“, die strahlende „Everybody's Darling“-Enkelpose jedenfalls reicht in Bonn nur zur Opposition.
Stärker als jede andere Partei spüren die Sozialdemokraten das Problem der schleichend sinkenden Wahlbeteiligung. Mit ihren Wattebotschaften hat sie es immer schwerer, die gewohnheitsmäßige SPD-Wählerschaft zur Stimmabgabe zu mobilisieren. Die Jungen erreicht sie so gar nicht erst. Und das ist nicht durch korrekt angebiederter Rhetorik zu bewältigen, sondern nur, indem die derzeitige politische Belanglosigkeit überwunden wird. 1968 schrieben rebellierende Studenten an die Mauer der Sorbonne in Paris den Satz „Das Leben ist anderswo“. Das war damals wohl als Aufforderung gemeint, nach dem wirklichen Leben zu suchen. Aber auch Oskar, Gerhard und Rudolf könnten heute mal drüber nachdenken. Hans-Peter Bartels
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