: Der Friedhof der Bücher
Eine Erzählung ■ von Nedim Gürsel
Bevor ich nach Paris zog, in die Rue du Figuier oder Feigenbaumstraße, hatte ich geglaubt, Schreiben sei eine Lebensform. Das glaube ich zwar immer noch, aber seit ich in dieser von alten Häusern flankierten Straße wohne, hat sich das Handwerk des Schreibens verwandelt – das ja bedeutet, mit der Welt und den Menschen in Kontakt zu sein, den Rhythmus des Meeres zu spüren, den Puls der Straßen und Städte, der Kinder und Vögel, der Erde, der Bäume, von Tag und Nacht, das heißt von Natur und Gesellschaft, diese Öffnung zum anderen hin.
Zunächst verwandelte es sich in eine völlige Einsamkeit, dann mehr und mehr in eine autoritäre Herrschaft. Meine Beziehung zu den Wörtern ist nicht mehr so leicht und frei wie früher. Ich gebe mich den Wörtern nicht mehr so leicht hin, die über meinem Kopf kreisen wie die kleinen Motten, die nachts durchs offene Fenster von der Lampe angelockt werden. Statt ihre feinen Formen zu bewundern, den schimmernden Glanz ihrer Flügel, das Schwirren ihres Fluges, und statt meine Sehnsucht nach Vaterland und Muttersprache zu bezwingen, indem ich sie mit meinen Augen streichle, werde ich zu einem unerbittlichen, schlauen Jäger.
Ich glaube nicht an einen direkten Zusammenhang zwischen meiner neuen Adresse und diesem deutlichen Wandel meiner Vorstellung vom Handwerk des Schriftstellers. Jedenfalls bis zu dem Tag, an dem ich aus purer Neugierde anfing, mich für die Geschichte meiner Straße und den Ursprung ihres Namens zu interessieren. Ich habe auch früher schon in Paris gelebt und in ähnlichen Wohnungen gewohnt, kleinen Zimmern mit Kochgelegenheit und schrägen Wänden, und habe auf den ständig bewölkten Himmel gestarrt, auf die altersdunklen Mauern oder die Fernsehantennen gegenüber, die aussehen wie ein Feld voller Vogelscheuchen.
Von hier aus ist der Blick mehr oder weniger derselbe. Nur das Hôtel de Sens mit seinen Erkertürmchen, die bis auf die Höhe meiner neuen Wohnung reichen, fügt der Szene eine neue Dimension hinzu. Ich kann meinen Blick von dem durch hohe Mauern eingeschlossenen Hof dieses erstaunlichen Gebäudes kaum abwenden. Zu welcher Tages- oder Nachtzeit ich mich auch zum Schreiben hinsetze, erlebe ich, wie die Wörter sich zerstreuen. Und anstatt säuberlich aufgereiht die Leere des weißen Blattes zu füllen, fliegen sie zum Hof des Hôtel de Sens – das mit den Erkern, Schießscharten, Wasserspeiern und der deutlich später angebauten Terrasse, die aussieht wie eine kaputte Zugbrücke, eher einer Festung ähnelt als einer Villa aus dem 16. Jahrhundert, wie es sie in diesem alten Pariser Viertel so häufig gibt.
Alle Anstrengung ist vergebens! Die Wörter gehorchen mir nicht mehr, ich kann sie nicht mehr wie früher unter Kontrolle bringen. Selbst wenn es mir einmal gelingt, einige zu schnappen, um sie aufs Papier zu bannen, entkommen doch immer noch alle anderen. Dabei herrschte früher ein so klares Einverständnis zwischen uns – schließlich hing meine Freiheit als Schriftsteller von ihrem Willen, mir zu dienen, ab. Bisher waren sie, wenn ich an einem Buch saß – hingeschrieben, umgestellt, ausgestrichen, nach grammatikalischen Regeln aufgereiht –, immer unter meinem Kommando gewesen, unter meiner Kontrolle.
Sie hatten sich noch nie so widerspenstig verhalten, selbst dann nicht, wenn ich neue Erzähltechniken ausprobierte und ihre syntaktische Ordnung damit störte; immer hatte ich sie gut im Griff. Auch die Buchstaben. Sie hatten mich noch nie so wütend gemacht wie jetzt, da sie sich einfach von einem Wort lösten, sich einem anderen anschlossen und durch diese Akrobatik die Bedeutungen zerstörten, mit denen ich die Wörter zu füllen versuchte. So sehr ich auch zu schreiben versuche: Jetzt erklären sie einfach, frei von meiner Vormundschaft zu sein, und ihren Willen, zu tun und zu lassen, was ihnen beliebt. Je mehr der Druck auf sie zunimmt, um so energischer tendieren sie zur Revolte und zum Trotz. Unsere Übereinkunft, die gegenseitige Abhängigkeit, die der Beziehung zwischen Herr und Knecht entspringt, hat sich in ein absurdes Verfolgungsspiel verwandelt.
Obwohl ich in den Augen meiner Leser doch ein respektierter Schriftsteller bin, haben sie einen armseligen Idioten aus mir gemacht, mit dem sie Blindekuh spielen. Als ich den Arbeitstitel dieser Geschichte schrieb, hätte ich mir nicht träumen lassen, daß sich ein L, das ich dem einen Wort zugeordnet hatte, selbständig machen und das R eines anderen Wortes vertreiben und sich an seine Stelle setzen könnte. Aber genau das ist passiert. Und die anderen machten mit. Nachdem aus dem „Well of Rocks“ (Brunnen der Felsen) der „Well of Locks“ (Brunnen der Schlösser) geworden war, folgten alle anderen Buchstaben dem Beispiel der ersten Meuterer und hörten überhaupt nicht mehr auf mich. Ich war gezwungen, ob ich wollte oder nicht, den Text nach ihren Launen zu ändern.
Und dann begannen die Wörter, deren Beherrschung ich seit meinem Umzug in die Rue du Figuier verloren habe, auch noch, sich aus den Sätzen zu lösen und, während ich an meiner Geschichte weiterschrieb, an die Oberfläche zu schwimmen, so wie Luftblasen an die Wasseroberfläche steigen, und sich Richtung Hôtel de Sens davonzumachen. Erst dachte ich, daß ihre Flucht durch dessen merkwürdigen Namen verursacht worden sei: Hôtel de Sens heißt soviel wie „Haus der Bedeutung“. Ein so beredter Name könnte sie ja wirklich angezogen haben.
Da wußte ich noch nicht, daß das Hôtel de Sens – das dastand wie aus einer anderen Welt und dessen mittelalterliche Luftzüge, die durch die düsteren Flurlabyrinthe wehten, mich schaudern ließen – seinen Namen einem Tristan de Salazar, Erzbischof von Sens, verdankte, der den Bau angeordnet hatte. Woher hätte ich auch wissen sollen, daß das, was meine Wörter einfing – meine geliebten Wörter, die ich unter tausendundeiner Qual aus den tiefsten Ritzen meines Gedächtnisses holte und aus den feinsten Falten meines Wesens, um sie meinen Lesern anzubieten –, daß das ein verrückt gewordener Brunnen im Hof des Hôtel des Sens war?
An jenem Nachmittag arbeitete ich bis spät in der Bibliothek. Seit dem 16. Jahrhundert war das Hôtel de Sens Residenz einiger alter französischer Familien gewesen. Jetzt wurde es seit dreißig Jahren als Bibliothek genutzt. Nachdem es so viele Geheimnisse und Leidenschaften, tote Lieben und schreckliche Verbrechen den Blicken der Öffentlichkeit entzogen hatte, beherbergte es nun Tausende gedruckter Bände. Im uralten Ballsaal, in dem in lange vergangenen Zeiten im Licht flammender Fackeln die Adligen des Königreichs getanzt und sich mit ihren Damen amüsiert hatten, saßen jetzt ein paar leidenschaftliche Buchliebhaber wie ich, versunken in ihre Lektüre, kaum bemerkend, wie es hinter den bunten Fenstern dunkel wurde.
Ich saß bis spät abends in der Bibliothek, ohne mir bewußt zu werden, daß sich die Pariser Nacht plötzlich auf die Dächer gesenkt hatte. Eine Hand berührte mich an der Schulter, und ich schreckte hoch. Es war der Bibliothekar, der sagte, daß die Bibliothek schon lange geschlossen sei. Er habe gesehen, wie ich, ohne aufzusehen, gelesen hätte, und habe mich daher nicht stören wollen. Aber jetzt müsse ich gehen. Wenn ich wolle, könne ich mir das Buch ausleihen. Nachdem ich ihm für sein Verständnis gedankt hatte, ging ich mit dem Buch hinaus. Ich war schon auf der Treppe, als er mir hinterherrief: „Der Pförtner hat den Eingang schon geschlossen. Gehen Sie über den Hof, da kommen Sie durch die Hintertür heraus.“
Soweit ich weiß, hat das Hôtel de Sens keinen anderen Eingang als den über die merkwürdige Terrasse, die wie eine Zugbrücke aussieht. Um den Bibliothekar nicht weiter zu belästigen, fragte ich nicht, wo genau diese Hintertür sein sollte. Eilig ging ich die Treppen hinunter und stand im Hof. Es war pechschwarze Nacht. Gelbliches Licht fiel durch die Fenster des großen Saals in den Hof. Ich ging darauf zu, und als ich die Augen hob, sah ich den Bibliothekar, der mich beobachtete. Wir starrten einander an. Dann plötzlich, gerade als ich ihn mit einer Geste fragen wollte, welche Richtung ich einschlagen sollte, wurde das Licht gelöscht, und ich stand im Dunkeln. Die Lichter der Stadt drangen über die hohen Mauern nicht in den Hof.
Ich beschloß, zurück- und die Treppe wieder hochzugehen, um den Bibliothekar zu suchen, der das Licht gerade gelöscht hatte, und dann gemeinsam mit ihm zu gehen. Gerade als ich mich umdrehte, tauchte der Bibliothekar hinter mir auf. Mit seiner Taschenlampe zeigte er auf die dunkelste Ecke des Hofes und flüsterte mir ins Ohr: „Hier entlang, mein Herr. Wir gehen unter dem Tor des ,Brunnens der Felsen‘ durch.“
Nun war weder ein Brunnen noch waren irgendwelche Felsen zu sehen. Der Schein der Taschenlampe strich über das Kopfsteinpflaster des Hofes und blieb auf einer Zementstelle liegen. Er bemerkte mein Zögern. „Mein Herr, ich verstehe Ihre Unsicherheit“, sagte er. „Sie haben sich offenbar, obwohl Sie schon so oft hiergewesen sind, noch nicht mit der Geschichte des Gebäudes vertraut gemacht, in der sich unsere Bibliothek befindet.“
„Das stimmt. Bis heute habe ich tatsächlich nichts darüber gewußt. Aber in dem Buch, das Sie mir ausgeliehen haben, las ich, daß Tristan de Salazar, Erzbischof von Sens, gegen Ende des 15. Jahrhunderts den Bau befohlen hat.“
„Ich meine die Geschichte, mein Herr, die uralte Vergangenheit des Gebäudes. Ihrer Benutzerkarte zufolge wohnen Sie in der Rue du Figuier Nummer vier. Vermutlich ist Ihre Kenntnis der Geschichte auf ein paar Jahrhunderte beschränkt. Oder haben Sie sich jemals Gedanken über den Ursprung dieses Straßennamens gemacht?“
Ich hatte keine Zeit, mit dem Bibliothekar zu schwatzen. Ich wollte gehen und so schnell wie möglich nach Hause. Aber da er vorher so freundlich gewesen war, wollte ich auch nicht unhöflich sein und versuchte seine Frage zu beantworten. „Wenn mich das nicht interessiert hätte, hätte ich Sie bestimmt nicht nach dem Buch ,Die Straßen von Paris‘ gefragt. Leider habe ich darin überhaupt keine Information über die Geschichte der Rue du Figuier vor dem 16. Jahrhundert gefunden. Wahrscheinlich ist sie zur gleichen Zeit wie das Hôtel de Sens entstanden.“
„Nein. Es gibt Dokumente, die beweisen, daß die Straße aus dem 13. Jahrhundert stammt. Aber wir können sogar noch weiter zurückgehen. Ich bin davon überzeugt, daß mehrere Jahrhunderte vor dem Bau des Hôtel de Sens, als selbst dieses Viertel noch nicht existierte, als Paris noch Lutetia hieß und lediglich eine ummauerte Festung mit knapp 20.000 Bewohnern auf der Île de la Cité war, daß es also damals einen Feigenbaum gegeben hat, der zwischen den Felsen wuchs – und zwar genau dort, wo jetzt die Straße ist. Später wurde zwischen den Felsen am Fuße des Baums ein Brunnen gegraben, so daß die Leute, die sich in seinem Schatten ausruhten, sich auch mit einem kühlen Trunk erfrischen konnten. Aber hauptsächlich wurde das Wasser zur Bewässerung der Felder gebraucht. Denn dieses Gelände wurde zum Anbau von Feldfrüchten genutzt. Der Feigenbaum ist schon lange tot, aber der Brunnen existiert noch. Mit seinem Wasser wurde noch der Lehm angerührt, den man für den Bau des Hôtel de Sens verwendet hat. Und Königin Margot ließ die Leichen ihrer allnächtlichen Liebhaber nach der Exekution in diesen Brunnen werfen.“
Ich wurde vor Ungeduld ganz zappelig. Dieses ganze Geschwätz interessierte mich kein bißchen. „Sie müssen verzeihen“, sagte ich „ich habe eine wichtige Verabredung. Warum reden wir nicht ein andermal darüber weiter? Ich bin morgen wieder da. Aber jetzt lassen Sie uns bitte gehen.“
„Ich verstehe Ihre Ungeduld, mein Herr, aber Sie sollten meiner Geschichte wirklich Aufmerksamkeit schenken. Denn unser Gang hängt durchaus vom ,Brunnen der Felsen‘ ab.“ – „Ich verstehe Sie nicht. Vorhin haben Sie noch gesagt, ich könnte die Hintertür benutzen.“ – „Ja, aber auf dem Weg zu ihr müssen wir auf den Grund des Brunnens klettern, da das Tor, das ich erwähnt habe, nicht hier ist, sondern im inneren Hof.“ – „Wie ist das möglich?“ fragte ich einigermaßen beunruhigt. „Sehen Sie, ich lebe in dem Haus dort, und zwar im obersten Stock. Ich kann vom Fenster aus das ganze Hôtel de Sens überblicken. Wenn es neben diesem noch einen zweiten Hof gäbe, wäre mir das ja wohl nicht entgangen.“
„Ich weiß, daß Sie die Nächte schreibend beim Licht Ihrer Lampe verbringen und daß Sie ab und zu den Kopf heben und zum Hôtel de Sens hinüberschauen. Ich beobachte Sie, seit Sie hierhergezogen sind. Aber aus so großer Höhe kann man gar nichts erfahren. Ich arbeite seit zwanzig Jahren in dieser Bibliothek und habe den inneren Hof erst vor kurzem entdeckt.“
„Unmöglich. Weder das älteste Dokument, das ich in den Archiven gesehen habe, noch der detaillierteste Plan des Gebäudes verzeichnet diesen angeblichen Hof. Sie müssen einer Sinnestäuschung erlegen sein.“ Er antwortete nicht. Er lächelte nur hochmütig. Ich war kurz davor, die Geduld zu verlieren. „Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich hier sofort raus.“ – „Das geht nicht.“– „Und warum nicht?“ – „Weil wir zuerst in den ,Brunnen der Felsen‘ hinunterklettern müssen.“
Er bat mich, ihm zu folgen, und ging selbst voraus. Am Ende des Hofes blieben wir an der Mauer stehen. Mit dem Strahl seiner Taschenlampe zeigte er auf einen bemoosten Stein und sagte: „Wie müssen hier hindurch.“ Im Schein des Lichts sah ich, wie sich der Stein um die eigene Achse drehte. Vor uns öffnete sich ein schmaler Durchlaß, groß genug für ein kleines Kind. Zuerst kletterte der Bibliothekar hindurch, dann leuchtete er mir. Ich fand mich in einer engen, dunklen Galerie. Beim Gehen mußten wir uns bücken und erreichten schließlich den inneren Hof. Genau in der Mitte dieses geheimen Hofes, dessen Ummauerung meiner Ansicht nach aus den Innenwänden eines der Ecktürme bestand, lag tatsächlich ein Brunnen. Wir gingen auf ihn zu, und der Bibliothekar begann sogleich, die Strickleiter, die sich in der Tiefe verlor, hinabzuklettern.
Ich folgte ihm. Seltsamerweise hatte ich überhaupt keine Angst. Nicht das kleinste Unbehagen regte sich in mir. Vielmehr kam mir alles ganz natürlich vor. Meine vorangegangene tiefe Abwesenheit im Lesesaal beim Lesen der Dokumente über die Rue du Figuier, mein Gespräch mit dem Bibliothekar, meine Ankunft in diesem geheimen Hof, unser gemeinsamer Abstieg in einen trockenen Brunnen mittels einer Strickleiter – das alles schien so normal, als würde ich diesen Gang jeden Abend auf dem Rückweg zu meinem Schreibtisch machen. Nichts beunruhigte mich weiter: nicht die salbungsvollen Worte des Bibliothekars, nicht die Insekten, die im Schein seiner elektrischen Taschenlampe krabbelnd flüchteten, nicht einmal die Spinnweben, die sich beim Abstieg an meine Füße hefteten.
Schließlich erreichten wir den Grund des Brunnens. Vor uns erstreckte sich eine Galerie mit hoher Decke, und hier konnten wir aufrecht weitergehen. Wir folgten diesem Tunnel mit tropfnassen Wänden eine ganze Weile, als wir plötzlich den Klang rasselnder Ketten hörten. Je weiter wir gingen, desto lauter wurde das Rasseln. Wir hielten vor einer Eisentür. Der Bibliothekar klopfte. Die Tür ging kreischend auf, und als wir über die Schwelle traten, blendete mich helles Licht. Wir befanden uns in einem riesigen Warenlager, das von Scheinwerfern erhellt wurde. Angestellte in offiziell aussehenden Uniformen liefen aus allen Richtungen durcheinander.
Sobald sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten, erkannte ich in der Mitte des Raums einen riesigen Bücherstapel. Armeweise entnahmen ihm die Angestellten Bücher und stellten sie in die metallenen Regale, die rundherum bis zur Decke reichten; sobald ein Regal voll war, wurde der Zugang zu den Büchern mit Ketten abgesperrt.
„Wir sind jetzt im ,Brunnen der Schlösser‘“, sagte der Bibliothekar. „Bitte verstecken Sie das Buch, das Sie ausgeliehen haben. Wenn die Angestellten es sehen, kommt es ebenfalls hinter Schloß und Riegel.“ Ich ließ das Buch in die Innentasche meines Jacketts gleiten, und wir gingen weiter an den Regalreihen entlang. Keiner nahm von uns Notiz. Alle waren viel zu sehr damit beschäftigt, die Bücher, die in der Mitte des Raumes von oben kamen, in die Regale zu stellen und sie anzuketten.
„Dies hier sind die Bücher, die von den Behörden verboten wurden“, sagte der Bibliothekar. „Sie brauchen sich nicht die Mühe zu machen, sie zu zählen. Sie werden sehen, es sind nur etwa hundert. Aber wenn ein Buch verboten wird, werden eben alle Auflagen aus dem Verkehr gezogen. Und dann kommen sie hierher hinter Schloß und Riegel. Manchmal ruft man mich zur Hilfe, um die Liste mit verbotenen Büchern zusammenzustellen.“
Aha, der Bibliothekar war also ein Spitzel! Dieser angebliche Wissenschaftler, dieser Heuchler, der seinen Lebensunterhalt mit dem Ausleihen von Büchern verdiente, verbrachte seine Nächte damit, schwarze Listen aufzustellen! „Wie können Sie sich an solch einem schändlichen Treiben beteiligen!“ schrie ich ihn an. „Beruhigen Sie sich, mein Herr!“ sagte er in leicht spöttischem Ton. „Ich habe eine Leidenschaft für Bücher, ich bin verrückt nach ihnen. Und weil ich Bücher liebe, bestrafe ich sie auch. Sie sind meine Kinder.“
„Büchern braucht man keine Manieren beizubringen!“ – „Aber ja doch! Sie sind wie Menschen: Sie werden geboren, sie wachsen auf, und dann können sie sich als gut oder schlecht erweisen. Dann, mein lieber Herr, sterben sie. Ihre Seiten fallen aus, und sie verschwinden wie Leichen, die unter der Erde verrotten.“ – „Nein! Bücher sind unsterblich! Menschen können sterben. Bücher nicht!“
„Manche sterben sogar, bevor sie überhaupt geboren sind. Ihre eigenen beispielsweise.“ – „Meine?“ – „Ja, einige Ihrer Bücher, diese hier in Ketten, waren die ersten unter den Büchern, die abgetrieben oder tot geboren wurden. Und Sie wußten nicht einmal davon.“
Die Worte des Bibliothekars ließen mein Blut zu Eis erstarren. Das Justizministerium hatte doch das Verbot einiger meiner Bücher gerade erst aufgehoben. Wovon redete er also? Der Bibliothekar bemerkte meine Verblüffung, hielt einen der eilig an uns vorbeihastenden Angestellten an und bat ihn, seinen Bücherstapel abzusetzen. Dieser tat das in einer Weise, als würde er den Befehlen eines Vorgesetzten gehorchen. Nachdem er die Hacken zusammengeschlagen und salutiert hatte, eilte er davon.
Der Bibliothekar wählte ein Buch aus dem Stapel und gab es mir. „Hier, das ist Ihr letztes Buch.“ Ich zitterte, als ich meinen Namen auf dem Umschlag sah. Es trug den Titel einer der Geschichten, die ich vergeblich zu schreiben versucht hatte, unfähig, deren Ende zu sehen. Es war eine wunderschöne Ausgabe mit exzellentem Druck. Beim Durchblättern wuchs mein Entsetzen. Hier waren alle Geschichten versammelt, die ich seit meinem Umzug in die Rue du Figuier hatte schreiben wollen.
„Vor Einführung des Kriegsrechts in Ihrem Land war dies der ,Friedhof der ungeschriebenen Bücher‘“, erklärte mir der Bibliothekar. „Später fügte man die verbotenen Bücher hinzu. Sie selbst haben Bücher in beiden Kategorien. Mit der Zeit, je mehr Verbote von liberalen Richtern aufgehoben werden, steigt die Zahl Ihrer ungeschriebenen Bücher. In gewissem Sinne sind Sie selbst es, der sie verbietet. Ich tue nur meine Pflicht. Im tiefsten Innern liebe ich Schriftsteller. Wenn Sie irgendwann wieder schreiben wollen, verlassen Sie Ihre neue Wohnung sofort. Streiten Sie sich nicht mit den Wörtern, die gegen Sie rebellieren und nicht länger auf Sie hören wollen. Wenn Sie weit weg gezogen sind vom ,Brunnen der Felsen‘, werden sie ziemlich sicher zurückkehren; die Wörter werden sich wie durch ein Wunder erneut vom Licht der Lampe anziehen lassen, um Sie wiederzufinden.“
Ich fühlte einen unwiderstehlichen Drang, diesen verfluchten Friedhof so schnell wie möglich zu verlassen. Der widerwärtige Mensch, der sich Bibliothekar nannte, war ganz offenbar der Friedhofswächter. Und schlimmer noch: Er war auch der Totengräber! Ich lehnte seine Begleitung ab. Ich rannte meinen Wörtern hinterher, die zum Hôtel de Sens geflogen waren. Ich erreichte die Eisentür, knallte sie hinter mir zu und beschloß, die Geschichte zu schreiben, wie aus meiner Geschichte, die ich „Brunnen der Felsen“ hatte nennen wollen, die Geschichte „Brunnen der Schlösser“ und schließlich „Der Friedhof der ungeschriebenen Bücher“ geworden war. Während ich rannte, fühlte ich mich vom Geräusch rasselnder Ketten verfolgt. Dann schwankten die feuchten Wände der Galerie, als ob die mit Büchern beladenen Regale hinter mir zusammengestürzt wären.
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