: Suche nach Brüchigkeit
■ Literaturhaus: Karl Dedecius stellte polnische Lyrik vor
Von Metapher zu Metapher, nicht von Wort zu Wort werden Gedichte übersetzt. Je unähnlicher sich dabei die Sprachen sind, um so mehr Gewinn zieht der Übersetzer aus seiner Arbeit, meinte Karl Dedecius am Dienstag abend im vollbesetzten Literaturhaus. Bereits rund 100 Bücher hat er aus dem Polnischen ins Deutsche übertragen.
Jahrgang 1921 ist er ein Mann der alten Schule, ausgestattet mit dem hierfür unverzichtbaren humanistischen Bildungshorizont und dem Starrsinn eines Aufklärers. In Lodz wuchs er auf, begründete später das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt, und es ist wahrlich nicht übertrieben, zu behaupten, daß ohne sein Engagement Deutschland nie führend in der Rezeption polnischer Literatur wäre.
Das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen sieht er als „fast neurotisch“ an, Schuld und Zorn, Sympathie und Abneigung sind engmaschig gestrickt. Als Kulturvermittler will er mit Langzeitwirkung gegensteuern. Und mit Masse: 7 Bände soll das Panorama der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts umfassen, dessen ersten beiden Bände 1008 Gedichte von 100 Autoren, meist von Dedecius übersetzt, füllen.
Aus dessen Vorwort las Dedecius, bot einen Querschnitt durch die Dezennien dieses Jahrhunderts, wobei in jedem, seinem sachverständigen Blick zufolge, eine Dichtergruppe oder eine Stilrichtung dominierte. Zur Jahrhundertwende war es „Das junge Polen“, vergleichbar mit den modernistischen Strömungen des Symbolismus und des Fin de siècle in Westeuropa. Den Gedichten der diesjährigen Nobelpreisträgerin für Literatur, Wislawa Szymborska, attestierte er eine frauliche Ratio, die unabhängig von literarischen Moden und Zwängen komplizierte Gedanken in einfache Sprache umzusetzen versteht. Nominiert für den Literaturnobelpreis waren ebenfalls Tadeusz Rózewicz und Zbigniew Herbert, und drei vorgelesene Gedichte des letzteren über die Vollkommenheit des Kiesels, die Dichterähnlichkeit von Hennen und über einen Rat suchenden Mr. Cogito bekräftigten Dedecius' These, daß die polnische Lyrik nach 1945 zunehmend Abstand von diagnostischer Metaphorik nahm und statt dessen nach perspektivisch brüchigeren Metaphern suchte. Zum Schluß las Dedecius Gedichte des Warschauers Krzysztof Karasek, der, selbst anwesend, das polnische Original hintansetzte.
Am Freitag werden die in Hamburg lebende Natasza Goerke und Ryszard Krynicki Gedichte im Literaturhaus vortragen. Stefan Pröhl
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