Mit dem Bombenanschlag auf die Schnellbahn ist die Angst wieder nach Paris zurückgekehrt. Zwei Tote hat das Attentat gefordert und mindestens 93 Verletzte. Die Überlebenden sind traumatisiert. Am Mittwoch wachte Frankreichs Hauptstadt im Belagerungszustand auf. Aus Paris Dorothea Hahn

„Alle wollten weg. Bloß weg“

Die Kellner von der „Closerie des Lilas“ sitzen unter dem goldgerahmten Wandspiegel zusammen und verteilen die Tische für diesen Dienstag abend. Nur die gläserne Drehtür und eine Fahrspur trennen sie von dem Glaspavillon, der als Eingang zur S-Bahn-Station Port Royal dient. Es ist eine der schönsten Bahnstationen in Paris – auf einem Grünstreifen mitten auf der weiten Avenue de l'Observatoire gelegen.

Um 18.03 Uhr ertönt der dumpfe Knall, der noch hundert Meter weiter hörbar ist. Der Boden bebt kurz. Die Fenster klirren. Dann steigt Rauch aus der S-Bahn- Station auf – dichter Rauch, der je nach Bericht weiß oder schwarz ist. Dann kommen die Menschen. Sie drängen ins Freie. Bleich. Schluchzend. Niemand sagt etwas. Niemand schreit.

Barmann Esposito denkt sofort an eine Bombe. Sekunden später erreichen die ersten Überlebenden sein Lokal und verlangen nach dem Telefon. Minuten später ist die große Kreuzung zwischen der Avenue und dem Boulevard Montparnasse von Polizei und Feuerwehr abgesperrt.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Boulevard wird Madame Carrier im „Tabac de l'Observatoire“ Zeugin des Unheils. Auch sie glaubt sofort an ein Attentat. „Wir sind leider sehr pessimistisch geworden“, sagt sie. Mechanisch wählt sie die Notrufnummer 18. Als sie aufgelegt hat, kommen Überlebende in ihr Lokal und wollen telefonieren. „Sie standen unter Schock“, wird Madame Carrier später mit vor ihrem knallroten Pullover verschränkten Armen ganz ruhig und gewissenhaft beschreiben. „Sie waren sehr, sehr abwesend. Manche hatten ein bißchen Blut an den Händen. Alle wollten weg. Bloß weg.“

Der Student Remi will noch schnell zu einem Schreibwarenladen fahren. Als er an der obersten Stufe der S-Bahn-Station Port Royal ankommt, drängen ihm von unten die flüchtenden Menschen entgegen. Manche auf allen vieren. Manche blutend. Manche weinend. Auch Remi ahnt sofort, was los ist. Er macht auf dem Absatz kehrt und rennt die fünf Minuten nach Hause zurück. Stunden später hält er es nicht mehr aus. Geht auf die Straße und in die Nähe der S-Bahn-Station zurück und legt immer wieder, vor Dutzenden von Journalisten, sein Meaculpa ab. „Das war wie im Ghetto, wie im Horrorfilm“, sagt der junge Mann mit reglosem blassen Gesicht. „Ich war feige. Ich hätte runtergehen und helfen sollen.“

„Unten“, wo die S-Bahn „RER-B“ in einem nach oben offenen Schacht anhält, hätte er nicht viel ausrichten können. Eine Frau und ein Mann sterben an Ort und Stelle. 93 Menschen sind verletzt, davon sieben schwer. Überlebende, die später versuchen, ihre Bilder in Worte zu fassen, sprechen von „Hölle“ und von „Blut, das aus den Menschen spritzte“. Eine Frau ist erstaunt, daß sie ihren Schirm zurückließ, aber das Buch, in dem sie zum Zeitpunkt der Explosion las, fest in der Hand hielt. Eine andere wundert sich darüber, wie ruhig die Menschen waren, als sie versuchten, aus den zerborstenen S-Bahn-Fenstern zu klettern.

Die Bombe war, so scheint es, unter einem Sitz deponiert. Sie explodierte bei der Einfahrt in die Station Port Royal, wo sich der S-Bahn-Tunnel nach oben hin öffnet. Für die Passagiere war das ein Glück im Unglück. Hätte sich die Katastrophe im Tunnel ereignet, wäre die Zahl der Opfer noch viel höher gewesen.

Niemand hatte in Frankreich mit so etwas gerechnet. Das Land glaubte, den Terror besiegt zu haben. Nachdem zahlreiche junge Islamisten aus französischen Vorstädten verhaftet und einer von der Polizei erschossen worden war, hatten die Attentate aufgehört. Daß zumindest ein wichtiger Drahtzieher bis heute auf der Flucht ist und daß mehrere von der französischen Justiz gesuchte Drahtzieher weiterhin im europäischen Ausland sind, war längst vergessen.

Dennoch ist das Wort „Attentat“ am Dienstag abend in aller Munde. Der Premierminister, der eine knappe halbe Stunde später mit einem beträchtlichen Teil seiner Minister und dem Pariser Bürgermeister an der S-Bahn-Station erscheint, sagt es. Und der Präsident, den die Explosion mitten im Vier-Augen-Gespräch mit Bundeskanzler Kohl überrascht, sagt es auch. Statt wie geplant von der Währungsunion spricht der Präsident später am Abend im Fernsehen über seine „Entschlossenheit im Kampf gegen den Terrorismus“. Für diesen Präsidenten ist es das achte Attentat.

Die Experten vor Ort bemerken schnell, daß sowohl der Zeitpunkt als auch der Ort und die Machart der Bombe „Unterschriftencharakter“ haben. Genau wie die vom 25. Juli vergangenen Jahres, die um 17.30 Uhr die Attentatsserie von 1995 einleitete und acht Menschen das Leben kostete, explodierte auch diese Bombe mitten im Berufsverkehr. Sie traf ebenfalls eine S-Bahn, und das auch nur zwei Stationen von Saint-Michel, dem Ort des anderen Attentats, entfernt. Und sie war, so scheint es, nach derselben Rezeptur hergestellt: eine Gasflasche, gefüllt mit Pulver und Nägeln.

Niemand übernimmt die Verantwortung für das Attentat, aber wenige Tage nach dem Referendum in Algerien dürfte die „islamistische Fährte“ die heißeste Spur sein. Manche Schaulustige, die an dem kalten Dezemberabend zu dem Katastrophenort gekommen sind, erörtern an dem rot-weißen Absperrband, das die Polizei überall gespannt hat, auch die korsische Variante. Aber niemand mag so recht daran glauben, daß die Korsen derartig blinden und brutalen Terror ausüben. Auch ein ETA- Attentat halten in Frankreich nur wenige für mögliche. Und überhaupt. Wenn die ETA zuschlägt, warum hätte sie es dann für nötig, die „Unterschrift“ von islamistischen Vorstadtjugendlichen zu benutzen?

Für die algerische GIA-Fährte spricht nicht nur das Referendum und die damit einhergegangene blutige Repression, sondern auch die Medienzensur auf der anderen Seite des Mittelmeeres. „Wenn die GIA in Algerien Bomben wirft, kommt das nicht ins algerische Fernsehen“, erklärt der Kriminologe Xavier Raufer. „Aber wenn sie es in Frankreich tut, gerät das per Parabolantenne in alle Haushalte.“

Für die „algerische Spur“ spricht auch, daß die franko-algerischen Beziehungen auch in diesem Jahr höchst angespannt geblieben sind. Die Entführung und Ermordung der französischen Mönche von Tiberihirne ist nur ein Beispiel dieser langen Serie von gewalttätigen Begegnungen. Und schließlich erinnern sich die Antiterrorexperten am Dienstag abend auch an frühere Attentatswellen, die, aus der arabischen Welt kommend, Frankreich ereilten. Schon öfter geschah das in der Weihnachtszeit. Beispielsweise in den Wintern 1985 und 1986. Oder am Heiligabend 1994, als eine Maschine der Air France auf dem Flughafen von Algier entführt wurde.

Für die Ermittler beginnt eine neue Fahndungswelle. Für die französische Polizei und das Militär beginnt ein neuer Einsatz. Noch am Dienstag abend wurde der Plan „Vigipirates“ reaktiviert, der, einst im Golfkrieg erfunden, auch im vergangenen Jahr Dienst tun mußte. Gestern schon standen zusätzliche Hundertschaften an den Bahnhöfen. Auf den Flughäfen wurden die Personenkontrollen intensiviert. Und alle französischen Grenzübergänge, Schengener Abkommen hin oder her, wurden erneut besetzt.

Für die Verteidiger der Opfer beginnt jetzt eine andere Routine. Françoise Rudetzki, die Präsidentin der Vereinigung „SOS-Attentat“, die selbst bei einem Attentat in den 80er Jahren verletzt wurde, erklärte am Dienstag abend im Fernsehen, daß auch jenen Passagieren, die sich im ersten Augenblick für unverletzt halten, nach Attentaten oft schwere Zeiten bevorstehen. Aus jahrelanger Beratung von immer neuen Attentats- Opfer-Generationen kennt sie das Schuldgefühl der Überlebenden, ihre Schlaflosigkeit, die wiederkehrenden Bilder des Schreckens. „Suchen Sie Hilfe“, rät Rudetzki den Überlebenden.

Am Dienstag noch hatte sich Frankreich angeschickt, ein wenig Ruhe zu finden. Das zweiwöchige Psychodrama des LKW-Fahrer- Streiks war beendet, das Weihnachtsgeschäft hatte begonnen. Am Mittwoch wachte das Land erneut im Belagerungszustand auf. „Alle wachsam“ stand auf den Plakaten, die über Nacht in der Metro aufgehängt worden waren. Die Mülleimer werden jetzt wieder verschlossen. Die Angst vor einer neuen Terrorwelle ist da.