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Hoffen auf Offenbarung

■ Die Gerichts- und Porträtzeichnerin Christine Böer sucht die menschliche Wahrheit hinter Anklage und wortreichen Beteuerungen. Ausstellung ihrer Zeichnungen im Landgericht

„Es kann von Vorteil sein, als kleine Spinnerin unterschätzt zu werden“, erzählt Christine Böer, seit zehn Jahren unterwegs als Gerichtszeichnerin. Nur mit Skizzenblock und Zeichenstift ausgerüstet, nähert sie sich „unaufdringlich“ den Angeklagten.

Sie kreist sie ein mit ihren Strichen und hofft auf die impulsive Offenbarung, das Gesicht hinter den Klischees. Im „Zeitalter des mechanischen Klicks“ wirkt ihre Arbeit menschlich und für den Gezeichneten noch kontrollierbar, verglichen mit den mächtigen Apparaten der Medien.

Christine Böers Augenmerk gilt der Körpersprache, dem nicht protokollierbaren Teil der Aussage. Das gelingt ihr im Porträt eines jungen Neonazis, der sich zynisch und stolz zu seiner Tat bekennt und dabei körperlich faltet und krümmt. Die Zeichnungen brauchen den Widerspruch der wortreichen Beteuerungen. Worte, die Böer oft als Zitate hineinschreibt.

„Die Sonne bringt es an den Tag“ steht in einem Sgraffito im Hof des Landgerichts Moabit, wo die Ausstellungstour ihrer Zeichnungen Ende November begann. Im Stuck der Decke und selbst in den Türklinken findet sich das Symbol des weit geöffneten Auges. Dem Anspruch, Wahrheit zur Sichtbarkeit zu verhelfen, fühlt sich die Zeichnerin verpflichtet – doch die Wahrheit, die sie meint, ist nicht die justitiable Tat. Sie sucht vielmehr die gesellschaftlichen Ursachen für das Scheitern der Lebensentwürfe der porträtierten Personen herauszuschälen.

Das ist in der Gerichtsarbeit nicht einfach. Die Geiselnehmer von Gladbeck, der „Mykonos“- Prozeß, Brandstiftung in Lübeck, das Politbüro der DDR: Es fällt schwer, in den gezeichneten Physiognomien ein Mehr zu entdecken, das über ein Wiedererkennen der medialen Schlagzeileninhalte hinausgeht. Böer will die „Gezeichneten“ nicht ausliefern, nicht zu Karikatur und Klischee verzerren. Was dieses Ethos der Zurückhaltung und des Festhaltens am Gegenüber bedeutet, erhellen dann ihre Kommentare oft mehr, als die Zeichnungen selbst es zeigen könnten. Da ist zum Beispiel die Farbstiftzeichnung eines „Kinderschänders“, hochkopiert auf Plakatgröße. Das Gesicht könnte genausogut für eine Lebensversicherung werben: Nichts Lauerndes oder Brutales ist ihm auf die Stirn geschrieben. Dennoch hat Böer um diese nichtssagenden Falten gekämpft, im Gerichtssaal sah sie nur den Rücken des Angeklagten. Die bürokratischen Hürden, die sie nehmen mußte, bis sie ihm in der Untersuchungshaft ins Gesicht sehen konnte, markieren für sie den Verlust von Menschlichkeit. „Diese Armseligkeit tut weh.“

„Ich sehe mich nicht als Gerichtszeichnerin“, sagt Christine Böer von sich. Die 55jährige ehemalige Kostümdesignerin und Dozentin für Gestaltung beschränkte sich nämlich nie auf den kriminalistischen Bereich.

Für die Hamburger Morgenpost etwa porträtierte sie ein Jahr lang täglich einen Menschen: „Das ging vom Bürgermeister bis zur Toilettenfrau“, sagt sie. „Die Jugend“ ist bei ihr ein immer wiederkehrendes Sujet: Sie beobachtet den Computerfreak, der sein Leben mit dem Einsatz im Spiel verwechselt, den Punk, der jedem seine Verachtung entgegenbrüllt, und sammelt Sprüche wie „Geld machen, egal wie“.

Diese Alltagsreportagen legen Zynismus, Machtphantasien und Anspruchsdenken als Produkt einer Gesellschaft bloß, in der sich alles um Geld und Haben dreht. „Da kriegen wir mit vollen Löffeln zurück, was wir in sie reingestopft haben.“

Selbst die Kinder, denen Böers große zeichnerische Liebe gilt, sind nicht frei von den Verzerrungen der Erwachsenenwelt. Mit ihrem Engagement, das an Käthe Kollwitz oder Heinrich Zille erinnert, stünde Böer im Kunstbetrieb auf verlorenem Posten. Mit ihrer Ausstellungstour durch die Foyers der Gerichte sucht sie nach einem eigenen Ort zwischen Kunst und Reportage. Mit dem Medium der Zeichnung wirbt sie dafür, sich die Zeit zu nehmen, andere Menschen wirklich zu sehen. Katrin Bettina Müller

Christine Böers Zeichnungen sind im Landgericht Berlin-Mitte, Littenstraße 11, noch bis 31. Januar 1997 zu sehen.

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