■ Kommentar: Wenn der Bär steppt
Wenn vom Potsdamer Platz die Rede ist, lassen die Politiker die Worte „Urbanität“ und „Dienstleistungsmetrople“ über die Zunge gehen, als handle es sich um ein Stück Erdbeereis mit Schlagsahne: Büros, Geschäfte, Malls, Multimedia, Mobilität sind nach wie vor angesagt. Obwohl längst klar ist, daß unter den wuchtigen Brückenbauten, die debis gerade hochzieht, niemand gern freiwillig flaniert, geschweige denn mit Lust arbeitet. Wohl darum bemüht sich der Konzern, dort ein Ministerium unterzubringen. Daß sich inzwischen die Projektentwickler Roland Ernst und Terreno für das Projekt von Asea Brown Boveri (ABB) ganz andere Gedanken machen, bedeutet nicht nur den Abgesang auf den Mythos Urbanität, sondern hauptsächlich die Revision des Projekts der Dienstleistungscity Potsdamer Platz.
Wenn überall in der Stadt die Büros wie Pilze aus dem Boden schießen und diese tagtäglich schwerer zu vermarkten sind, wie Roland Ernst feststellt, ist Umdenken in der Nutzung angesagt. Pleiten wären sonst die Folge, denn die Rendite stimmt nicht. Doch nicht nur die geplante Dienstleistungsstadt kommt damit auf den Prüfstand, sondern der Begriff von Urbanität droht vor Ort gänzlich zu kippen. Denn das geplante Hotel- und Konferenzzentrum, das Ernst statt der Büros bauen will, bringt nicht viel mehr Lebendigkeit als der benachbarte Kommerzzirkus von Rolf Deyle, der mit einem Musicaltheater und den 3-D- Kinos auf die Tourismusbranche setzt: Tagsüber ist der Ort tot, und abends rollen die Busse aus Herne und Cottbus an. Drei, vier Stunden blockieren diese dann die Parkdecks und Anliegerstraßen, während drinnen der Bär steppt. Danach herrscht im Berliner Las Vegas wieder Ruhe. Rolf Lautenschläger
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