: Kleine Lichter im großen heiligen Krieg
Der „Islamistenprozeß“ in Paris gewinnt durch das Attentat in der Metro neue Aufmerksamkeit ■ Aus Paris Dorothea Hahn
Warum er Mitte der 80er Jahre begann, in die Moschee zu gehen, vermag der 27jährige Farid Zarouabi nicht zu erklären. Er kann auch keine Suren aus dem Koran aufsagen: „Ich erinnere mich nicht an sie.“ Er glaubt nicht einmal, daß es irgendein wichtiges Ereignis oder eine Person gab, die ihn zum praktizierenden Muslim und später zum bewaffneten Islamisten und potentiellen Attentäter in Marokko gemacht haben.
Seit Montag steht der junge Mann aus der Stadt Orléans in Paris vor Gericht, muß sich wegen Zugehörigkeit zu einer „kriminellen Vereinigung in Zusammenhang mit einem terroristischen Unternehmen“ verantworten. Neben ihm sitzen 20 weitere Männer aus Immigrantenfamilien aus Algerien und Marokko auf der Anklagebank. Ihr Alter liegt zwischen 20 und Ende 30. Ihre Lebensgeschichten ähneln sich zum Verwechseln. Sie spielen in dem Zwischenraum von Arbeitslosigkeit, Dealereien, Überfällen und grenzenloser Perspektivlosigkeit, den Zigtausende Vorstadtjugendliche kennen.
Der „Islamistenprozeß“ wäre eine Insiderveranstaltung geblieben. Beobachtet lediglich von den Familien und Freunden der Angeklagten und ein paar interessierten Ausländern. Wenn ... wenn nicht eine Woche zuvor die Bombe in der Pariser RER, in der nur wenige hundert Meter von dem Gerichtsgebäude entfernten Station Port- Royal explodiert wäre. Der Überraschungseffekt der neuen Bombe, die vier Toten, die zahlreichen Verletzten und die Angst vor dem Beginn einer Attentatsserie wie der im vergangenen Jahr werteten das Verfahren auf. Dabei gibt es bislang keinerlei bekannte Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen dem RER-Attentat und dem „Islamistenprozeß“.
Das „Netz“, zu dem die 21 Angeklagten gehören sollen, wurde am 24. August 1994 schlagartig bekannt. An jenem Sommertag griffen ein paar junge Männer aus Frankreich ein Hotel in Marrakesch an. Zwei spanische Touristen kamen ums Leben. Sechs Mitglieder des Kommandos — von denen einige französische, andere nordafrikanische Pässe haben — wurden wenig später verhaftet. In einem Prozeß, dem die Angeklagten nur mittels Übersetzung folgen konnten, wurden drei von ihnen im Januar 1995 in Marokko zum Tode, die übrigen zu lebenslänglich verurteilt. Ihren ebenfalls aus Frankreich eingereisten Freunden gelang damals die Flucht. Angeblich hatten sie für die Tage nach dem Hotelattentat weitere Angriffe in Marokko geplant — so auf einen jüdischen Friedhof in Casablanca.
Während der marokkanische König Hassan II in diesen Tagen das Gnadengesuch der zum Tode verurteilten jungen Männer prüft, eröffnet die französische Justiz das Verfahren gegen ihre angeblichen Komplizen. Doch die Angeklagten sind längst nicht vollständig anwesend. Auf der Pariser Angeklagtenbank fehlen: erstens einer der beiden offenbar Verantwortlichen der Gruppe, der „Emir Said“, alias Mohamed Zinedine, der sich auf der Flucht befindet, sowie die sechs in Marokko Verurteilten. Für ihre Beteiligung an dem Pariser Prozeß hat die französische Justiz nicht gesorgt. Nicht einmal ihre Vorladungen vor das Pariser Gericht erreichten sie. Denn die französische Justiz schickte sie an ihre alte Pariser Adresse. Dabei hätten die französischen Behörden es besser wissen müssen. Schließlich war der oberste Antiterror-Richter des Landes, Jean-Louis Bruguière, höchstpersönlich im vergangenen Jahr nach Marokko gereist, um die dortigen Angeklagten im Gefängnis zu sprechen.
Die Anwälte in Paris, die bereits die Verteidigung in Marokko übernommen hatten, vermuten hinter der Abwesenheit der sechs Absicht. Bei der Eröffnung des Verfahrens am Montag nachmittag fragt der Verteidiger Francis Terquem: „Welche Abmachungen mit ausländischen Mächten“ die Justiz der französischen Republik dazu veranlaßt hätten, auf eine Verurteilung der sechs in Frankreich zu verzichten. Frankreich hat nicht einmal versucht, eine Auslieferung der sechs zu erreichen. Kritiker des Pariser „Islamistenverfahrens“ vermuten hinter dieser Haltung allzuviel Rücksicht auf das befreundete Königreich Marokko.
Dennoch steht in Paris auch ein Mann aus dem Kommando, das im August 1994 in Marrakesch mordete, vor Gericht. Tarek Fallah war die Flucht nach Deutschland gelungen. Von dort erwirkte die französische Justiz seine Auslieferung. „Wenn er sich verteidigen will, kann er das nur tun, indem er die zum Tode Verurteilten anschuldigt“, sagt Rechtsanwalt Christian Charrière-Bournazel am Montag in Paris.
Eine weitere grobe Ungereimtheit in dem „Islamistenprozeß“ ist die Tatsache, daß den Angeklagten in Paris Höchststrafen von zehn Jahren drohen. Unter ihnen befindet sich aber auch „Rachid“, alias Abdelilah Ziyad. Der kahlköpfige bärtige „Emir Rachid“ aber war nach übereinstimmenden Aussagen der Pariser Angeklagten derjenige, der sie neben dem flüchtigen „Emir Said“ rekrutiert hat. Die beiden Enddreißiger wählten die Jugendlichen in den Vorstädten von Paris, Orléans und Avignon aus. Sie beide brachten die Jugendlichen zum Islam, verschafften ihnen die mehrmonatigen Ausflüge in Trainingslager in Afghanistan und schickten sie 1994 auf die Reise nach Marokko, wo sie die von ihnen ausgetüftelten Attentate verüben sollten. Während einige nun in Marokko in der Todeszelle sitzen, riskiert ihr mutmaßliche Auftraggeber „Emir Rachid“ in Paris schlimmstenfalls ein paar Jahre Gefängnis.
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