Ermittler fressen Ermittler auf

Italiens Staatsanwälte trauen sich nicht mehr, irgend etwas zu unterschreiben. Ob sie Anklage erheben oder nicht: Immer laufen sie Gefahr, selbst mit Klagen und Verfahren überzogen zu werden  ■ Aus Rom Werner Raith

„Wissen Sie, was für mich das schlimmste aller Übel symbolisiert?“ Staatsanwalt Bernardo Globo macht ein Pause, zündet sich eine lange, dünne Zigarette an und blickt aufmerksam über seinen Schreibtisch herüber. „Nein, wissen Sie nicht?“ Er greift in seine Brusttasche. „Dann will ich es Ihnen zeigen, das hier ist es.“ Er zieht einen Füllfederhalter heraus. „Mit dem unterschreibt der Staatsanwalt seine Anklagen oder seine Verfahrenseinstellungen. Es ist das Corpus delicti für alles, was unserseins tut. Na und, werden Sie sagen, das ist auch anderswo so, wer unterschreibt, hat die Verantwortung. Richtig.“ Er zieht heftig an seiner Zigarette, verschiebt einen Stapel Akten, öffnet den obersten Deckel, schließt ihn wieder. „Bei uns kann man unterschreiben, was man will, es ist immer falsch.“ Merkwürdige Sätze aus dem Munde eines Gesetzeshüters. Aber Staatsanwalt Globo hat kein irres Flackern in den Augen. „Wenn Sie die Zeitungen einigermaßen verfolgen, sehen Sie doch, was ich meine. Ich sage nur Di Pietro.“

Keiner spricht, Namen müssen geändert werden

Der Effekt Di Pietro. Seit die Staatsanwaltschaft Brescia und mittlerweile auch noch die aus Rom Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Chefankläger in Sachen Korruption eingeleitet haben, geht die Angst um in den Amtsstuben der Staatsanwälte. Ins Mikrofon spricht keiner mehr, selbst die Namen müssen geändert werden, will man etwas über sie drucken: „Kannibalismus“, sagt Globo, „Ermittler fressen Ermittler auf und werden von weiteren Ermittlern liquidiert.“

Kein übler Ausdruck, Kannibalismus; er setzt sich derzeit in Italien durch. „Einige Zeit konnte man mit unserer Situation durchaus leben“, sagt Globo, „auch wenn man immer im Kreuzfeuer stand; als Ankläger können Sie es ja nie allen recht machen. Doch in anderen Ländern geht man, wo man mit dem Urteil unzufrieden ist, in die nächste Instanz. Hier in Italien hat sich inzwischen eine ganz andere Methode durchgesetzt: Wenn Sie hier jemanden anklagen, versucht der zu beweisen, daß der Ankläger ein krummer Hund ist, völlig andere Motive hat als die Strafverfolgung – etwa daß er in die Politik will oder seine Bücher bekanntmachen oder ähnliches –, und er droht ihm, daß er ihn seinerseits ins Kittchen bringen wird oder jedenfalls seine Verwandten und Freunde. Lehnt man aber die Anklageerhebung ab, geht's umgekehrt – dann fällt die Presse über einen her, weil man angeblich nicht aus Mangel an Beweisen so gehandelt hat, sondern sich irgendeinem Mächtigen beugt. – Ey, Giancarlo, komm rein!“

Ein langer, dünner Mann hat den Kopf hereingestreckt: „Voruntersuchungsrichter Blicco“, stellt Globo vor, „das ist der Mensch, der entscheiden muß, ob meine Anklagen überhaupt zugelassen werden. Ihm geht's ähnlich wie mir, auch wenn wir oft diametral anders entscheiden.“ Richter Blicco grinst: „Wir sind halt in Italien. Sie sind Deutscher? Na, dann werden Ihnen die Haare zu Berge stehen, wenn Sie mitbekommen, wie sich die Justiz hier selbst lahmlegt. Aber im Grunde ist das weder neu noch unerwartet. Das italienische Machtkartell hat immer so reagiert, wenn ihm jemand zu nahe trat. Eigentlich sollten wir es wissen, daß uns das System über kurz oder lang eliminieren wird – physisch, wie die Leute, die die Sache von der Mafia her angepackt haben, oder psychisch, wie sie das derzeit mit dem armen Di Pietro machen, oder beruflich, wie sie es wahrscheinlich bald mit uns machen werden. Das Problem ist nur: Theoretisch wissen wir das alle, besonders wir 68er, die wir ja immer die Systemkomponente gesehen haben. Bloß: Wenn's uns selbst trifft, fangen wir an zu moralisieren, berufen uns auf demokratische Prinzipien und humanitäre Grundsätze. Dabei spielt das gar keine Rolle: Was zählt, sind Macht und Geld.“

Schluß mit einer Justiz, die auch für die Mächtigen gilt

Richter Blicco sieht alles in einer größeren Perspektive: „Die zeigen uns derzeit mit einer geradezu umwerfenden Offenheit, einer auch für Italien seltenen Arroganz, wo sie hinwollen – alle, auch die Mitte- links-Regierung, der doch gerade die Anti-Korruptions-Ermittlungen den Weg an die Macht frei geschaufelt haben.“ Musterbeispiel für Blicco: „Um ja keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, hat die Regierungsmehrheit einen Vizepräsidenten für die Anti-Mafia-Kommission mit gewählt, der aus der oppositionellen Partei des Silvio Berlusconi kommt und der geradezu das Symbol für die Blockade weiterer Ermittlungen ist, den ehemaligen Justizminister Filippo Mancuso. Sie erinnern sich vielleicht: Den hatte gerade die Linke vor weniger als einem Jahr mit einem Mißtrauensvotum aus der Regierung Dini vertrieben, weil der Mann unentwegt die Ermittlungen der Mailänder Sonderkommission zunichte gemacht hat. Die Botschaft ist klar: Schluß mit einer Justiz, die auch für die Mächtigen gilt; die Herrscher stehen fortan wieder außerhalb der Strafverfolgung, und basta.“

Staatsanwalt Globo hebt die Schultern: „Kollege Blicco ist zum Zyniker geworden, vielleicht weil er halt doch zehn Jahre älter ist als ich. Ich wehre mich noch gegen das alles, für ihn ist es nur noch ein großer Witz, daß Italien vor drei Jahren den Ruf der einzigen Nation bekam, die sich selbst aus dem Korruptionssumpf zieht, und nun torkelt das Land noch tiefer in den Filz hinein als zuvor.“ Richter Blicco breitet die Arme aus. „Das Wunder ist, daß es so lange gedauert hat, bis die Politiker uns Juristen wieder so spalten konnten. Ich geh wieder an meine Arbeit.“

Staatsanwalt Globo schaut seinem Kollegen noch lange nach, dann rückt er seinen knarrenden Schreibstischstuhl etwas zurück, schiebt die italienische Nationalfahne, die wie in jedem Amtszimmer hinter ihm hängt, zur Seite: Nicht nur das Foto des derzeitigen Staatspräsidenten Oscar Luigi Scalfaro wird sichtbar, sondern auch ein Stich mit einem Männerporträt: „Cesare Beccaria“, erklärt er, „der Mann, der im 18. Jahrhundert die philsophischen Grundlagen des modernen demokratischen Strafrechts gelegt hat.“ Globo rückt die Fahne wieder zurecht. „Nur, gerade im Lande dieses Beccaria gibt es nun überhaupt kein Straf-Recht“ – er skandiert das Wort.

Er zündet sich die x-te Zigarette an: „Ich weiß, auch in anderen Ländern ist die Justiz am Zusammenbrechen. Aber nur weil es zu viele Fälle für sie gibt; bei uns kommt noch etwas dazu: Es gibt auch keine Gesetze.“ Dann lacht er etwas gekünstelt. „Natürlich gibt es Gesetze, ein Strafgesetzbuch, ein Strafverfahrensrecht. Aber keiner kennt sich damit aus. Oder es würde drei oder vier ganze Leben kosten, sich darin auskennen zu lernen. Entschuldigen Sie, aber irgendwie setzt sich auch bei mir der Sarkasmus durch.“

Er drückt die Zigarette aus, halb geraucht, blättert in einer Akte, die vor ihm liegt, klappt den Deckel wieder zu, konzentriert sich wieder auf das Gespräch. „Aber das schlimmste ist, daß auch gar niemand Rechtssicherheit will. Politiker, aber auch einfache Bürger wollen vor allem, daß sie oder ihre Verwandten oder ihre Klientel immer ein Schlupfloch haben, um rauszukommen – und eine Handhabe, gegen uns arme Strafermittler vorzugehen.“ Leidet er doch ein wenig unter Verfolgungswahn?

Er fühlt wohl den Gedanken. „Ich erzähle Ihnen einen Fall. Da war ein Kleinstadtbürgermeister, der hatte in seinem Amtsbereich sogenannte vorläufige Baugenehmigungen erteilt, etwas, was es gesetzlich gar nicht gibt. Aber so durfte, wer einen Bauantrag stellte, schon bald bauen, auch wenn die Erlaubnis nur ,vorläufig‘ galt. Eine Absurdität natürlich. Danach stellte sich tatsächlich heraus, daß keine dieser Genehmigungen hätte erteilt werden dürfen, und so mußte ich den Bürgermeister wegen Amtsmißbrauchs anklagen. Daraufhin zeigten mich der Unternehmerverband, die Gewerkschaft und sogar der Bauernverband an, weil ich einen Mann, der Wohnraum geschaffen und Arbeit gegeben und ungenutzte Bauflächen hat bebauen lassen, ins Gefängnis stecken wollte. Der Mann wurde verurteilt, aber die zweite Instanz ordnete ein neues Verfahren an, weil sich inzwischen die Rechtsgrundlage geändert hatte. Der Kollege, der jetzt die Anklage vertrat, stellte den Fall ein – und hat jetzt gerade deswegen auch ein Verfahren am Hals: Umweltschützer und ein paar Nachbarn sehen darin eine Rechtsbeugung.“

Die Justiz ist überlastet – und das ist gewollt

„Dazu kommt“, sagt Globo und hält mir die letzte Augabe des Politmagazins Panorama vor die Augen: „Wir schieben einen derartigen Berg von Fällen vor uns her, daß selbst der kundigste Jurist automatisch Fehler machen wird, so wenig Zeit bleibt einem pro Fall.“ An die 10 Millionen Verfahren allein der ersten Instanz warten auf Bearbeitung durch die Staatsanwälte; dafür gibt es landesweit nur etwa 2.000 Planstellen, von denen ein Fünftel auch noch unbesetzt ist. „Vor vier Jahren“, liest Globo weiter vor, „dauerte ein Strafverfahren erster Instanz noch durchschnittlich 307 Tage, heute sind es bereits 352 bis zum Urteil, in der Revisionsinstanz ist die Kluft noch größer, da dauerte es 1992 480 Tage, heute sind es 666.“

Er lehnt sich zurück, öffnet wieder mal den Deckel der obersten Akte, liest einen Augenblick darin, schließt ihn wieder. Dann betont er jede Silbe: „Und ich sage ihnen: All das ist ge-wollt. All das kommt nicht aus der Unfähigkeit unserer Gesetzesmacher und unserer Stellenplaner. Es ist ge-wollt, ge-wollt! Aber wenn Sie das laut aussprechen, dann geht es Ihnen wie dem armen Di Pietro. Was soll ich Ihnen sonst noch sagen?“

Er öffnet den Aktendeckel, beginnt etwas hineinzukritzeln. Nach zwei Minuten blickt er auf. „Ach so, Sie sind ja noch da. Also was soll ich Ihnen noch sagen?“

Ja, was soll er noch sagen. Ich weiß es auch nicht. Eine Unterschrift, soviel sehe ich jedenfalls, hat er in die Akte nicht hineingeschrieben.