■ Interview mit dem BDI-Vizepräsidenten Tyll Necker über Welthandel, Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze: Keine Garantie für Besitzstände
taz: Der Welthandel wächst doppelt so schnell wie das globale Bruttosozialprodukt. Wozu dient dieses wahnsinnige Wachstum?
Tyll Necker: Der Welthandel ist eine Quelle des Wohlstands. Wir müssen auch den Ländern der Dritten Welt das Recht einräumen, sich am weltweiten Wohlstand und Wachstum zu beteiligen.
Aber die Statistiken sagen etwas anderes: Der Abstand zwischen den ärmsten 20 Prozent der Länder und den reichsten 20 Prozent hat sich seit 1960 verdoppelt.
Der Welthandel nützt sicher nicht allen gleichermaßen. Es gibt ein klare Korrelation zwischen einer marktwirtschaftlichen Politik und der Wohlstandsentwicklung – ich denke da an die vier „Tiger“ Südostasiens oder die Reformstaaten in Mittelosteuropa.
Die „Tiger“ und „Drachen“ wie Südkorea und Malaysia sind doch Beispiele für Staaten, die sich gerade nicht dem Freihandel verschrieben haben, sondern ihre junge Industrie vor dem internationalen Wettbewerb schützen.
Indien zum Beispiel hat gerade durch den Abbau von Zollmauern und andere Liberalisierungsmaßnahmen Fahrt aufgenommen. Schutz ist der falsche Weg. Was würde etwa aus Deutschland werden, wenn wir nicht durch einen weltweiten Export einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung unserer Arbeitsplätze leisten würden?
Wie paßt das zu der Tatsache, daß vier Millionen Menschen hier als arbeitslos registriert sind?
Ich verweise nur darauf, daß wir die kürzeste Wochen- und Jahresarbeitszeit haben und überdies noch, wenn auch nicht die höchsten Löhne, so doch die höchsten Arbeitskosten. Wenn wir uns solche Dinge erlauben wollen, ohne den starken internationalen Wettbewerb zu berücksichtigen, bekommen wir ein Problem.
In Großbritannien, wo Margaret Thatcher schon früh mit der Deregulierung anfing, zahlt eine koreanische Computerfirma in Wales Stundenlöhne von unter sechs Mark. Erwartet die deutschen Arbeitnehmer dasselbe?
Ein klares Nein. Wer produktiver ist und Besseres zu bieten hat, kann auch höhere Einkommen haben.
Wohl nicht unbedingt. In Frankreich hat IBM seine Mitarbeiter vor die Wahl gestellt: 7,7 Prozent weniger Lohn oder Massenentlassungen. Die Mitarbeiter akzeptierten die Lohnkürzungen.
Sicher, der internationale Wettbewerb führt zu einem Druck, wenn die Einkommen nicht mehr im richtigen Verhältnis zur Leistung stehen. Aber wo steht denn geschrieben, daß wir unseren Wohlstand in alle Ewigkeit erhalten können? Es kann doch keine Besitzstandswahrungsklausel geben. Denken Sie an die Familie Buddenbrook. Immer hat es solche Veränderungen gegeben, Gott sei Dank meist nach oben, aber auch manchmal nach unten.
Ihr Nachfolger als BDI-Präsident, Olaf Henkel, meint, daß Deutschland vor allem im Export von Arbeitsplätzen gut sei.
Das stimmt, aber es wird oft vergessen, daß die Industrie einen vergleichsweise kleinen Anteil an unserer Wirtschaft hat. Weder können Sie Ihr Auto in Korea reparieren lassen, noch Ihr Krankenhaus ins Ausland verlagern. Die Dienstleistungen sind der größte arbeitsplatzschaffende Bereich.
Und womit verdienen wir das Geld, um uns die Dienstleistungen leisten zu können?
Wir müssen systematisch unsere Vorsprünge herausarbeiten. Zunächst wäre da das sogenannte Humankapital: eine solide Ausbildung, motivierte Mitarbeiter. Wir haben auch einen Vorsprung in der Vernetzung der Wirtschaft, in der Infrastruktur.
Und bezogen auf Branchen?
Stark sind wir zum Beispiel in der Chemieindustrie, einer zugleich kapital- und humankapitalintensiven Branche. Wir sind stark in der Umwelttechnik, aber müssen noch viel verbessern bei der Informationstechnik...
...und verlieren zugleich Marktanteile in ehemals starken Branchen wie dem Maschinenbau.
Dieser Sektor ist sehr arbeitskostenintensiv. Wenn wir vermeiden, weiterhin die höchsten Arbeitskosten mit maximaler Freizeit und höchsten Unternehmenssteuern zu kombinieren, dann werden wir unsere nach wie vor zum Teil führende Position im Maschinenbau halten können. Allerdings in einer Mischkalkulation mit Zulieferungen aus Billiglohnländern.
Das wird den Siemens-Computerexperten, der seinen Job an einen Konkurrenten im indischen Bangalore verliert, wenig trösten.
Wir müssen tatsächlich bereit sein, Arbeitsplätze auch abwandern zu lassen, wenn wir auch nach der Korrektur von Fehlentwicklungen bei uns einfach nicht wettbewerbsfähig sind.
Und die Arbeitslosigkeit steigt und steigt.
Das muß nicht sein, wie Industrieländer wie Neuseeland beweisen. Auch unsere Erfahrung nach dem Krieg zeigt, daß durch Marktöffnung eine enorme Entwicklung freigesetzt wurde. Ludwig Erhard hat gesagt: Wohlstand für alle schaffen durch Liberalisierung...
Moment, zu Erhard gehört auch der Sozialstaat. Sozialer Frieden ist doch klar im Interesse der Wirtschaft. Empfinden Sie es da nicht als Rückschritt, wenn die deutsche Wirtschaft mit Ländern wie China konkurrieren muß, wo weder Menschen- noch Arbeitsrechte berücksichtigt werden?
Es gibt natürlich Dinge, die man regeln muß. Das gilt zum Beispiel für den Umweltschutz.
Verstehe ich richtig, Sie sind für Umweltklauseln im Welthandel?
Nicht in dem Sinne, daß wir keine Produkte aus einem Land kaufen, in dem bestimmte Umweltstandards noch nicht erreicht sind. Das würde den Welthandel ja erheblich behindern. Aber ich bin entschieden dafür, daß wir zu internationalen Standards kommen in bezug auf Umweltentlastung und das Verbot von Kinderarbeit – wenn auch nicht in der WTO.
Also durch internationale Abkommen, so zahnlos sie sein mögen.
Wir können über Kreditvergabe und Entwicklungshilfe Druck ausüben. Ich halte es aber für sehr problematisch, wenn wir solche Probleme mit Welthandelsfragen verbinden. Denn Umwelt- und Sozialklauseln würden allzuleicht benutzt werden, um in Wirklichkeit Schutzmauern zu Lasten der Dritten Welt zu errichten.
Der IWF-Chef Michel Camdessus hat gesagt: „Der Markt kann nicht das letzte Wort haben.“ Sie würden dem widersprechen?
Nein, es gibt Dinge, die müssen reguliert werden. Sie können kein Fußballspiel machen ohne Regeln und ohne Schiedsrichter. Aber Sie können nicht das ganze Match regulieren, dann brauchen Sie gar nicht erst zu spielen. Interview: Nicola Liebert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen