: "80 Prozent werden nicht gebraucht"
■ Rationalisierungen und Computereinsatz machen immer mehr Jobs überflüssig, meint Jeremy Rifkin, einer der bekanntesten US-Wissenschaftskritiker. Wenn der Westen sich retten will, muß er neue Wege gehen.
taz: Herr Rifkin, stellen wir uns ein abgeschiedenes Urwalddorf vor, wie im Bilderbuch. Der halbe Stamm müßte auf einmal nicht mehr auf die Jagd gehen, weil einer Pfeil und Bogen erfunden hätte. Das wäre doch Anlaß zu einem Freudenfest...
Jeremy Rifkin: Schön wäre es, aber leider teilen die Menschen nicht. Der technische Fortschritt war niemals zugunsten aller. Technik ist Überlegenheit. Gerade Pfeil und Bogen sind das ideale Beispiel für mehr Macht. Der Besitzer erweitert sich selber, bekommt mehr Kraft als sein Gegenüber. Sein Vorteil wird für andere Menschen zum Nachteil.
Was passiert, wenn das Ungleichgewicht zu groß wird?
Die Gesellschaft bricht zusammen. In den zwanziger Jahren, als die Elektrizitätswerke in den USA übermächtig wurden und die Industrie dank neuer Maschinen mit weniger Arbeitern immer mehr produzierte, ignorierte man alle Warnungen – die Weltwirtschaftskrise kam. Danach wollten die Amerikaner schlauer sein, rauften sich zusammen und versuchten Gesellschaftsverträge zu machen. Aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es, das Gleichgewicht wiederherzustellen.
Auch heute wird der Fortschritt nicht gerecht verteilt. ABB, einer der größten Konzerne der Welt, hat in den letzten Jahren fast 50.000 Beschäftigte entlassen. Gleichzeitig steigerte sich der Umsatz um 60 Prozent.
Eine typische Entwicklung. Die Beschäftigung nimmt ab, die Produktivität steigt an. Der Aufschwung findet heute ohne Arbeitsplätze statt. Computer und vor allem die moderne Informationstechnik werden in den nächsten Jahren auch im Dienstleistungsektor 75 Prozent der Arbeitnehmer ersetzen. Niemals zuvor waren so wenig Arbeitsplätze nötig, um die für die Weltbevölkerung notwendigen Produkte und Dienstleistungen zu erbringen.
Wer wird seine Arbeit verlieren?
Hier in den Industrieländern wird es zwei Schichten geben. Zwanzig Prozent werden die Elite der Informationsgesellschaft bilden: ein kleiner Haufen von Entscheidungsträgern, Entwicklern und Ausbildern. Auf der anderen Seite stehen die Verlierer: 80 Prozent der Bevölkerung werden nicht mehr gebraucht. Das sind, neben den Arbeitern in den Fabriken, in Zukunft auch Angestellte auf allen Dienstleistungsebenen bis hin zum mittleren Management. Diese Entwicklung wird unweigerlich politische und soziale Unruhen zur Folge haben. Die Kriminalität steigt an, den rechten Ideologien wird wieder Wasser auf die Mühlen gegossen. Der Sündenbock ist mit Sicherheit in allen Industrieländern, nicht nur in Deutschland, einmal mehr der Ausländer. Sie können das in den USA sehen, wir haben unter der Oberfläche bereits ernsthafte Probleme.
Sie fordern, die Wochenarbeitszeit auf 30 Stunden zu reduzieren und überschüssige Arbeitskraft für gemeinnützige Arbeit zu verwenden. Was versprechen sie sich davon?
Nach der Landwirtschaft fanden die Menschen Arbeit in der Industrie. Als die Fabriken die Arbeiter auf die Straße setzten, gab es neue Aufgaben im Dienstleistungssektor. Jetzt kommt die nächste Revolution, aber ein neuer klassischer Markt ist nicht in Sicht. Der erste Schritt wäre daher, die jetzige Marktsituation zu verbessern und nicht nur die Arbeitszeit auf 30 Stunden pro Woche zu reduzieren, sondern gleichzeitig auch die Gehälter zu erhöhen.
Sehr idealistisch. Kein Arbeitgeber wird sich darauf einlassen.
Der Wirtschaft bleibt gar nichts anderes übrig. Wenn die Unternehmer nicht teilen, wird die Kaufkraft verlorengehen. Ohne Kaufkraft kein Absatz. Zur Zeit quälen sie sich von Monat zu Monat und versuchen, den Markt weiter auszuquetschen. Aber jede Rationalisierung, jede Entlassung läßt die Kaufkraft weiter wegbrechen. Das wissen viele Manager auch. Privat sagen sie mir das ganz offen. Nur keiner will den ersten Schritt tun.
Henry Ford, als Erfinder der Fertigungsstraße selber einer der ersten Rationalisierer, warnte seine Kollegen schon wenige Monate vor der Weltwirtschaftskrise 1929. Der Wegfall der Kaufkraft werde den Markt zusammenbrechen lassen. Keiner der Konzernchefs wollte auf ihn hören.
Konkurrenz schläft nicht. Natürlich wird kein Manager etwas ändern, wenn man ihn nicht zwingt. Aber ich glaube, daß so mancher von ihnen ins Bett geht und von einer neuen Arbeiterbewegung träumt, die ihm die Entscheidung abnimmt.
Die Firmen würden doch ins Ausland abwandern, noch bevor das Gesetz in die ersten Lesung kommt.
Das müßte natürlich global geschehen, zumindest in allen Industrienationen. So bliebe der Wettbewerb gleichberechtigt. Auch nach der Industrialisierung gab es eine radikale Reduzierung der Wochenstunden in allen Ländern. Wir sollten von der Informationsgesellschaft nicht weniger verlangen.
Und die freigewordene Zeit sollen die Menschen für gemeinnützige Arbeit verwenden?
Das ist der zweite Schritt: Die Leute sollen für die Gesellschaft arbeiten und dadurch wieder den Staat entlasten. Das wäre sogar eine Chance. Die dank High-Tech überflüssig gewordene Arbeitskraft gäbe uns die Möglichkeit, endlich mehr Energie in den sozialen Wohlstand unserer Mitbürger zu investieren.
Der deutsche Individualist sucht sich eher einen Zweitjob, bevor er für die Gesellschaft arbeitet.
Das wäre der Zweitjob. Für viele Menschen könnte die Arbeit im sozialen Bereich sogar der Hauptberuf werden. Irgendwo müssen die Menschen ja hin. Wie gesagt, einen neuen klassischen Markt gibt es nicht. Also lassen Sie uns aus dem sozialen Bereich einen Markt schaffen, der von kommerziellen Aspekten unabhängig ist. Anstatt die Menschen zum Nichtstun zu verurteilen, können sie wertvolle Arbeit für die Gemeinschaft machen. Ein arbeitsloser Mechaniker könnte zum Beispiel Behindertenbusse warten, ein Lehrer ohne Job Deutschkurse für Ausländer geben.
Wie soll das funktionieren?
Voraussetzung dafür wäre, das bisherige System zwischen Wirtschaft und Politik aufzubrechen. Die ganze politische Debatte – ich bin mir sicher, selbst in der linken taz ist das so – dreht sich nur um Wirtschaft und Staat. Wer rechts wählt, stimmt für den kapitalistischen Markt. Wer sein Kreuz bei einer linken Partei macht, ist für mehr staatlichen Einfluß. Die Wirtschaft automatisiert sich, braucht nur noch Führungskräfte, der Staat ist überfordert und zieht sich zurück. Keiner der Wege wird in der Zukunft funktionieren.
Ihr neues Gesellschaftsystem soll aus drei gleichberechtigten Kräften bestehen...
... statt wie bisher nur aus Wirtschaft und Staat. Der wirtschaftliche Sektor schafft finanzielles Kapital und immer weniger Arbeitsplätze, der staatliche Sektor schafft staatliches Kapital, aber auch immer weniger Jobs, der neue dritte Sektor würde soziales Kapital, mehr Jobs und ehrenamtliche Arbeit bieten. Dieser dritte Sektor mit zur Zeit über einer Million Mitarbeiter in Deutschland ist heute noch der vergessene Sektor.
Meine Botschaft an den kleinen Rest politisch motivierter Menschen: Dieser Sektor ist der wichtigste. Eine funktionierende Gesellschaft ist die Grundvoraussetzung für Handel und einen funktionierenden Staat. Das ist die Geschichte der Menschheit. Nur der soziale Austausch treibt den Markt voran. Der dritte Sektor muß der erste werden.
Die Realität sieht zur Zeit anders aus. Fast allen allgemeinnützigen Organisationen werden die Zuschüsse gestrichen. Der Einfluß wird eher schwächer.
Organisiert euch! Wenn sich die nichtstaatlichen sozialen Organisationen zusammentun würden, hätten sie eine ungeheure politische Macht. Es braucht ein gemeinsames Auftreten im dritten Sektor. Dann könnte er das Zentrum einer neuen Politik werden und den Staat genauso wie die Wirtschaft dominieren. In Italien, Frankreich, Spanien, Kanada und den USA gelingt das schon ganz gut. Umweltorganisationen, Frauengruppen, Sozialarbeiter und all die anderen Gruppen kommen zusammen und werden eine zentrale politische Kraft. So läßt sich auch das Fundament für neue Jobs schaffen. Das der Bedarf für mehr gesellschaftliche Arbeit vorhanden ist, läßt sich nicht leugnen.
Der Staat zieht sich von seinen sozialen Aufgaben zurück, weil ihm das Geld ausgeht. Aber auch diese Form von sozialer Arbeit würde nach enormen Zuschüssen aus der Staatskasse verlangen.
Steuern zahlen müssen wir so oder so. Die Frage ist allein, wohin wir unser Geld stecken. Machen Sie es nicht so wie wir Amerikaner. Wir stecken unser Geld in Gefängnisse. Das ist keine gute Investition. Ist es nicht sinnvoller, die Steuern in eine gesunde Gesellschaft zu investieren. Wir könnten Tausenden junger Leute produktive, soziale Arbeit geben, bevor sie auf der Straße landen und kriminell werden.
Trotzdem müßten sie so eine radikale Umverteilung erst mal durchsetzen.
Diese neue politische Kraft könnte den Staat dazu zwingen, die Gewinne aus der neuen Automatisierung verstärkt zu besteuern und damit die gemeinützige Arbeit zu finanzieren. Ein Land wie Deutschland würde ohne den dritten Sektor innerhalb von wenigen Tagen brachliegen. Im Moment betteln die sozialen Institutionen um ein paar Zuschüsse. Wenn sie Glück haben und ihre Anliegen sich gut vermarkten lassen, bekommen sie auch mal was von der Wirtschaft. Es müssen Forderungen auf politischer Ebene werden. Dazu brauchen wir die Kraft eines Zusammenschlusses.
Die Führungsrollen wollen sie im dritten Sektor den Gewerkschaften und der Frauenbewegung überlassen. Wie kommen Sie ausgerechnet auf diese Konstellation?
Die schwächelnden Gewerkschaften hätten dadurch die Chance, auch in den klassischen Bereichen wieder mehr Einfluß zu bekommen. Es ist heute sehr schwierig, Arbeitskämpfe zu organisieren, weil die Produktion immer weniger von den Arbeitern abhängt. Zeitarbeiter, Heimarbeiter am Computer zu Hause und ein paar Gelegenheitsarbeiter lassen sich kaum mobilisieren. Streik als Druckmittel wird immer unbrauchbarer. Eine Allianz aus Gewerkschaften und drittem Sektor könnte nicht mehr übergangen werden.
Frauen waren in diesem Jahrhundert die stärksten Kräfte im dritten Sektor. Aber sie waren zu höflich und haben für ihre Arbeit kein Geld verlangt. Was nichts kostet, wird auch nicht anerkannt. Deswegen haben wir alle diesem Bereich keine Aufmerksamkeit geschenkt. Heute suchen sich die Frauen ihre Bestätigung auch lieber in der Wirtschaft, und wir sehen, daß eine Gesellschaft ohne gemeinützige Arbeit kollabiert. Keine Gruppe ist im dritten Sektor so stark vertreten wie die Frauen. Sie haben hier die idealen Voraussetzungen, um eine einflußreiche politische Kraft zu werden. Warum nützen sie nicht die die Gelegenheit?
Sie fordern neue Steuern, unter anderem auf Kommunikation.
Die Kommunikationsgesellschaft muß Kommunikation besteuern. Statt höhere Steuern für Löhne bräuchten wir Steuern für High-Tech-Geräte und technische Dienstleistungen. On-line-Angebote, Faxmaschinen, Modems, Computer oder Werbung.
Ich gehöre zu dem Wissenssektor, mir geht es gut. Eine Steuer von fünf Prozent auf einen Computer tut mir nicht weh. Das Geld wandert dann direkt in Einkommensfonds für die soziale Arbeit. So könnten alle Arbeitnehmer, die nicht mehr auf dem freien Markt gebraucht werden, wertvolle Arbeit machen, anstatt depressiv zu werden. Interview: Clemens Heidel
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