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Kinder als Verkehrsplaner

Verkehrsberuhigte Zonen reichen für eine kindgerechte Verkehrsplanung nicht aus. Denn Kinder können am besten selbst planen  ■ Aus Hamburg Florian Marten

Mühelos analysieren die Kids im Kindergartenalter den 1:5.000-Stadtplan ihrer Umgebung. Sie helfen dem Verkehrsplaner Richard Schröder in Herten, die Verkehrsschwachstellen ihres Stadtteils aufzudecken. Stadt- und Verkehrsplanung mit Kindern ab drei Jahren? Wer da den Kopf schüttelt, etwas von „Abstraktionsvermögen“ und „räumlicher Vorstellungskraft“ murmelt, wird von der Avantgarde einer neuen Planungskultur eines Besseren belehrt: Kinder haben ein präzises Wissen über ihre Umgebung. Sie können Pläne lesen, mit Modellen arbeiten und Alternativen diskutieren.

Auch wenn Richard Schröders Kinder in Deutschlands Kinder- Vorzeigestadt Herten bei der Straßen- und Verkehrsgestaltung nur mitreden dürfen – eine eigene Fahrrad-BMX-Strecke haben sie bereits selbständig geplant. Statt einen teuren und asphaltierten Rundkurs mit Maschendrahtzaun – der deutschen Standardvariante – legten sie einen schmalen und pfiffigen Sandpfad für gerade mal 5.000 Mark an.

Der Verkehrsclub Deutschland (VCD) hat 1996 zum Jahr des Kindes im Verkehr ausgerufen. Neben lokalen Einzelaktionen erarbeiteten Kinder mit Maßband, Stoppuhr und Fragebogen deutschlandweit ein erstes „Kinderverkehrsgutachten“, das der VCD gestern vorgestellt hat. Die wichtigsten Ergebnisse: Gehwege sind zu schmal, die Wartezeit an Ampeln ist zu lang, Autos verhalten sich an Zebrastreifen rücksichtslos, Fahrradwege gehören auf die Fahrbahn, nicht auf den Gehweg.

Die von Verkehrswissenschaftlern wie Heiner Monheim geforderte Verkehrswende sollen die Kinder bringen. Lange Zeit galten sie in Verkehrsplanung und Wissenschaft als gefährdete Weichziele, die es durch Einbimsen von Verkehrsregeln und Fernhalten von der Straße zu schützen gelte. Die Experten haben jetzt neue und alte Erkenntnisse zu einer verkehrspolitisch brisanten Mischung gerührt. Kindheit, so konstatiert Heiner Monheim, braucht die Straße: Im Straßenraum der Vor- Auto-Gesellschaft erweiterte die Straße die Häuser: „Auf der Straße wurden die Kinder ganz automatisch in das Leben mit einbezogen, konnten durch Dabeisein, Zuschauen und Mitmachen vieles lernen. Reine Fahrflächen gab es nicht.“

Die Stadtplanerin Petra Rau bringt einen weiteren Aspekt ins Spiel: Die Verlagerung des kindlichen Lebens von der Straße ins Haus zu den elektronischen Weltvorgauklern führt nicht allein zu Übergewicht, Nervosität und Konzentrationsschwäche. Nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen wird dabei der Gleichgewichtssinn nicht mehr ausreichend trainiert. „Der Gleichgewichtssinn übernimmt die Koordination für alle anderen Sinne. Kann er dies nicht mehr, weil er nicht genug durch Bewegung angeregt und trainiert wird, leidet die gesamte Leistungsfähigkeit der Kinder“, sagt Petra Rau.

Bummeln, balancieren, zickzack laufen – jenes Bewegungsprofil, das viele Erwachsene zur Weißglut bringt – ist nicht nur eine „Urlust von Kindern“, sondern auch sinnvoll: „Nur durch die Orientierung im Raum gewinnen die Kinder ein Zeit- und Längenverständnis.“ Fehlt die, führt dies außerdem zu Schwächen beim Lesen, Schreiben und Rechnen, so Rau. Hier und da eine verkehrsberuhigte Wohnstraße oder mehr Spielplätze reichten aber nicht als Ausgleich.

Eine wachsende Zahl von Stadt- und VerkehrsplanerInnen will daher nicht stadt- und verkehrsgerechte Kinder, sondern kindgerechte Städte und Verkehr. Dabei, so erkannte der VCD, ist es notwendig, „Kinder als Verkehrsexperten in eigener Sache ernst zu nehmen“. Das fällt auch wohlmeinenden PlanerInnen noch schwer. Auf dem Symposion „Kinder im Verkehr“ in Hamburg waren parallel zwei Workshops angeboten: Im Workshop „Verkehrsplanung für Kinder“ drängelten sich vierzig PlanerInnen, den Workshop „Beteiligung von Kindern bei der Verkehrsplanung“ interessierte acht Menschen.

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