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Kein schöner Tod

■ Eine neue Studie will belegen: In der oldenburgischen Heilanstalt Wehnen wurde in der NS-Zeit „wilde Euthanasie“ praktiziert – in Eigeninitiative der Ärzteschaft

„Wat mut wi hier smachten ...“ – Was müssen wir hier hungern in der Anstalt Wehnen! Die Pfleger und Ärzte fressen uns das Fleisch aus den Töpfen!“, klagte 1943 ein Patient der klinischen Psychiatrie in Wehnen. Wer hier klagte, war vielleicht ein halbes Jahr später schon den Hungertod gestorben.

Mindestens 1500 Patienten der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Wehnen fielen während des Dritten Reiches der „Euthanasie“ zum Opfer. Die Vermerke in den Krankenakten – „Tod durch Herz- und Kreislaufversagen“ – waren gefälscht, das will der Oldenburger Historiker Dr. Ingo Harms jetzt nachgewiesen haben. Euthanasie, im Griechischen bedeutet das „der schöne Tod“. Wie der Begriff

Euthanasie – der schöne Tod

im Dritten Reich zur Vernichtung von kranken und behinderten Menschen mißbraucht wurde, zeigt Harms Buch „Wat mut wi smachten... – Hungertod und Euthanasie in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen im Dritten Reich“.

Es hat bereits für einige Aufregung gesorgt, weil es eine verdrängte und vergessene Vergangenheit wieder ins Gespräch bringt. Bis in die siebziger Jahren interpretierten Historiker das NS-Euthanasieprogramm für „unheilbar“ Kranke nur als medizinische Tötung. Fälle, in denen der Tod mit Medikamentenhilfe herbeigeführt wurde. Hitlers Euthanasieerlaß, der „erbbiologisch unwertes Leben“ bedrohte, galt ab 1941 für alle Kliniken im Deutschen Reich.

Für die Psychiatrie in Wehnen will Harms zeigen, daß sie sich von anderen Kliniken in zwei Punkten unterschied: Er behauptet, daß die außerordentlich hohe Sterblichkeit in Wehnen andere Ursachen hatte und daß sie früher einsetzte als anderswo. Die Ärzte hätten hier eine besondere Methode der Euthanasie praktiziert, meint

Patienten mußten Hungers sterben

Harms beweisen zu können. Man ließ die Patienten Hungers sterben: „Das war die sogenannte ,wilde Euthanasie'. Sie begann in Wehnen bereits vor 1941.“ Die oldenburgische Psychiatrie lieferte insofern einen Modellfall für das, was in anderen Kliniken ab Herbst 1941 passierte. In der Studie werden auch die Ermittlungen gegen Euthanasie, die 1948 begonnen wurden, zum Thema. Unter der deutschen Gerichtsbarkeit sei es aber nicht zu Anklagen gekommen. Und deshalb, so Harms, sei die Euthanasie nie gesellschaftlich verurteilt worden: „Urteile wären ganz wichtig gewesen. Das Unrechtsbewußtsein der Mediziner, wenn sie denn eins hatten, konnte sich so nach dem Krieg auf wunderbare Weise selbst erledigen.“

Widerstände bei der Akteneinsicht

Die Recherchen des Historikers waren nicht allen recht. Bei seinen Versuchen, Akten einzusehen, stieß Harms auf Widerstände. Ihm wurde erst durch eine Weisung des Sozialministers in Hannover der Zutritt zum Archiv des heutigen Landeskrankenhauses Wehnen gewährt. Drei Monate hatte er bereits

geforscht, als er erfuhr, daß es noch ein zweites Archiv in Wehnen gibt. Auf hartnäckiges Drängen bekam er weitere fünfzehn Monate später ein drittes Archiv zu Gesicht: Das Landeskrankenhaus Wehnen wollte die Nachforschungen verhindern, so scheint es heute. Da überrascht es nicht, daß alle Anträge von Harms auf finanzielle Unterstützung seiner Forschung abgewiesen oder ignoriert wurden. Sein nun veröffentlichtes Buch enthält viele provokante Formulierungen. Harms behauptet: „Was geschah, sehe ich nicht als Folge des Hitler-Faschismus. Ich sehe es als eine Folge der Geneigtheit und Disponiertheit innerhalb der Ärzteschaft, innerhalb der Medizinalwissenschaft.“ In Oldenburg bedurfte die Vernichtungsaktion keines Befehls „von oben“; die verantwortlichen Ärzte handelten in eigener Initiative, schreibt Harms und rührt damit an ein Tabu.

Vernichtungsaktion in eigener Regie

„Wat müt wi hier smachten...“ ist keine juristische Antwort auf die Frage nach der oldenburgischen Verstrickung in die NS-Euthanasie, es sucht nach historischen Erklärungen. Für Harms selbst war das Bild, das sich ihm bot unerwartet: ein großer Teil der Oldenburger Ärzteschaft im Dritten Reich erfüllte mit vorauseilendem Gehorsam die rassenbiologischen Programme der Wissenschaft.

Katrin Patzak

Das Buch ist bei der Druck- u. Verlagscooperative Oldenburg erschienen und kostet 29,80 Mark.

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