Strafverfolger auf dem Horrortrip

■ Selbsthilfegruppe „Cannabis als Medizin“ kriminalisiert: Zollfahnder durchsuchten Wohnungen von Mitgliedern und leiteten Ermittlungsverfahren ein. Kranken droht die Verschlechterung ihres Zustands

Bei der Strafverfolgung von Haschischrauchern schlägt Berlin die bayerischen Provinzler noch um Längen. Gestern und vorgestern durchsuchten Zollfahner die Wohnungen von zwei chronisch Kranken, die Mitglieder der Selbsthilfegruppe „Cannabis als Medizin“ sind. Beschlagnahmt wurden jeweils rund 25 Gramm Cannabis sowie die gesamten Unterlagen über die Selbsthilfegruppe. Die Nachricht von dem Vorfall hat weit über Berlin hinaus einen Sturm der Entrüstung ausgelöst.

Der Verein „Cannabis als Medizin“ existiert seit einem Jahr und hat rund 50 Mitglieder. Die an Aids, Krebs, multipler Sklerose und anderen chronischen Krankheiten leidenden Menschen bekennen sich offen dazu, Cannabis therapeutisch zur Linderung ihrer Schmerzen, zur Beruhigung und als Appetitanreger einzusetzen.

Das Ermittlungsverfahren richtet sich gegen das Vorstandsmitglied des Vereins, Alexander Remmele, sowie gegen den Beamtenanwärter Thorsten H. Justizsprecherin Corinna Bischoff begründete den Durchsuchungsbeschluß gestern damit, die Beschuldigten stünden im Verdacht, auf dem Postweg von einer Schweizer Firma Cannabisprodukte bezogen zu haben.

Der 30jährige krebskranke Remmele sagte zur taz, er habe die Beamten darauf hingewiesen, daß sie ihm seine auf dem Wohnzimmertisch liegende Medizin wegnähmen. „Ich benötige das Gras, um die Symptome meiner Krankheit zu lindern.“ Durch die Beschlagnahmung sehe er sich nun gezwungen, das Cannabis auf dem Schwarzmarkt zu besorgen. Dem an Nierenfunktionsstörung und Entzündung des Dünndarms leidenden 32jährigen Thorsten H. geht es ähnlich. Der 1,70 Meter große Mann wiegt nur noch 40 Kilo und braucht Cannabis als Appetitanreger und zur Beruhigung.

Der gesundheitspolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, Bernd Köppl, erklärte, die therapeutische Wirkung von Cannabis sei wissenschaftlich erwiesen, es sei ein sinnvolles Therapeutikum. Köppl befürchtet, daß sich der Zustand der Kranken durch die Strafverfolgung verschlechtern werde.

Auch der Präsident der Ärztekammer, Ellis Huber, schäumte: „Die dogmatische, altväterliche Ideologie in Deutschland verhindert den Einsatz von Cannabis als Medizin, ganz im Gegensatz zu den USA und England.“ Hubers Rezept: „Die Dummheit von Staatsorganen ist nur heilbar, wenn man die Regierung abwählt.“

Die schleswig-holsteinische Gesundheitsministerin Heide Moser (SPD), die einen Modellversuch zum Verkauf von Cannabis in Apotheken vorbereitet, sprach von „Betonköpfen“. Die Kriminalisierung der Kranken „bestätigt den Unsinn der Verbotspolitik“, sagte Moser.

Der Vorsitzende Richter am Lübecker Landgericht, Wolfgang Nescovic, der 1994 beim Bundesverfassungsgericht einen Beschluß zum Haschischverbot erwirkte, sprach von „ideologischer Verblendung“ der Berliner Strafverfolgungsbehörden.

Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit (SPD) war nicht erreichbar. Auf die Frage, ob sie bei der Staatsanwaltschaft eine Einstellung des Verfahrens gegen die Kranken erwirken werde, sagte ihre Sprecherin, über eine Einstellung könne nur von Einzelfall zu Einzelfall entschieden werden. Plutonia Plarre