: Warten, warten auf den König Kunde
Christina Oraschewski arbeitet in einem Kaufhaus. Der Ladenschluß hat ihren Alltag radikal verändert ■ Von Daniela Weingärtner
Es ist 19.58 Uhr. Die drei Mitarbeiter der Abteilung Elektro warten auf die Rentnerin mit der Glühbirne. Ein junger Mann flitzt zwischen den Regalen durch und wirft eine Packung Staubsaugerbeutel auf die Kassentheke. „Vorzeigeeffekt“, sagt Christina Oraschewski lakonisch. „Heute kommt natürlich keine.“ Ruheständler, die kurz vor Ladenschluß kaputte Schalter zurückbringen oder Glühbirnen kaufen, sind der Running Gag in der Abteilung.
Ansonsten gibt es hier abends wenig zu lachen. Wenn um halb sieben ein erster Kassenabschlag gemacht ist und die beiden Kollegen aus der Frühschicht in den Feierabend verschwinden, scheinen sich auch die Kunden in Luft aufzulösen.
Dann wandert Christina Oraschewski unter Kristallüstern und Halo-Strahlern die Regale entlang und wartet. Elektro hat sie gelernt. Jetzt könnte sie sich Zeit nehmen für unentschlossene Kunden, die Vorzüge und Nachteile verschiedener Haushaltsgeräte bis zum letzten Spülgang erörtern möchten. Aber in der Ecke mit den Großgeräten wartet niemand auf Beratung.
Seit Beginn ihrer Schicht heute morgen um elf hat Christina Container ausgepackt. Der Gang bis rüber zur Porzellanabteilung stand voll davon. Bücken, Lampe auswickeln, auf die Leiter klettern, anschließen – auf dem Basteltisch zwischen zwei Regalen liegen noch die letzten lädierten Leuchten. „Die mach' ich morgen fertig. Für heute reicht's“, sagt sie energisch.
Die junge Frau mit den fröhlichen Augen und der blonden Tolle nimmt die Sache mit Humor. Ihr Betrieb hat zum 1. November zwei Schichten eingeführt. Den Schichtplan regelt jede Abteilung intern. Bei Elektro wird wöchentlich gewechselt. Vergangene Woche fing Christina um halb zehn an und ging kurz nach halb sieben nach Hause, diese Woche beginnt sie um elf und verläßt das Kaufhaus um fünf nach acht.
„Davon, daß ich mich aufrege, wird es auch nicht anders“, sagt sie realistisch und liegt damit ganz auf der Linie des deutschen Einzelhandels. Noch im Sommer hatten sich bei Umfragen 90 Prozent der Betriebe gegen die Verlängerung der Ladenöffnungszeiten ausgesprochen. Zum Stichtag zogen dann doch 75 Prozent mit – aus Angst, im Kampf um die fest zugeschnürten Sparstrümpe der Konsumenten den kürzeren zu ziehen.
Dieser Stichtag hatte seine Tücken, und Christina muß bei der Erinnerung daran schon wieder lachen. In den meisten Bundesländern waren an Allerheiligen, als das Gesetz in Kraft trat, die Bürgersteige feiertäglich hochgeklappt. Der Startschuß für die jahrelang erbittert umkämpfte neue Konsumfreiheit wurde auf den 2. November verschoben. Der aber war ausgerechnet der erste Samstag im Monat November, von bundesdeutschen Einkaufsbummlern als „langer Samstag“ fest in die Freizeitplanung einbezogen und geschätzt. Als dann um 16 Uhr der neuen Regelung entsprechend die Kunden aus den Kaufhäusern komplimentiert wurden, kam es zu unerfreulichen Szenen.
Ab 30. November wird den Käufern schon wieder geistige Beweglichkeit abverlangt. In der Vorweihnachtszeit haben die meisten Läden nämlich samstags doch bis 18 Uhr geöffnet. Wie das ausgeht, weiß Christina jetzt schon: Die Kunden werden sich dann gerade an die neuen Spielregeln gewöhnt haben und ganz brav um vier zu den Ausgängen strömen. In den Außenbezirken der Städte und in den kleinen Gemeinden ist die Lage noch unübersichtlicher. Jedes Dorf schreibt sich derzeit sein eigenes Ladenschlußgesetz. In manchen Bezirken können sich nicht einmal benachbarte Läden auf einheitliche Zeiten einigen. Christina und ihre Kollegen haben schon über kundenfreundliche Lösungen nachgedacht. Vielleicht könnte neben dem Ortsschild und dem Blechkreuz mit den sonntäglichen Messezeiten ein gesonderter Anschlag über die Ladenöffnungszeiten auf der Gemarkung informieren.
Die beiden Kollegen aus der Spätschicht können ihrer neuen Existenz als Schichtarbeiter keine komische Seite abgewinnen. Für Rolf Speidel ist das Familienleben jede zweite Woche außer Kraft gesetzt. Denn seine Frau arbeitet als Krankenschwester in der Frühschicht und geht, wenn er um viertel vor neun nach Hause kommt, bald schon ins Bett. Der neunjährige Sohn schläft ohnehin längst. Und der Freizeitausgleich am verlängerten Wochenende? Der freie Vormittag? Der Fachverkäufer zuckt die Achseln und zieht seine Mundwinkel nach unten. „Einmal die Woche haben wir mit Freunden Squash gespielt, das können wir jetzt vergessen.“ Mit der zusätzlichen Zeit am Vormittag, wenn seine Familie längst das Haus verlassen hat, weiß er nicht viel anzufangen.
Bei seinem älteren Kollegen Raymund Schulte scheint die Verbitterung noch tiefer zu sitzen. Er hat bis vor kurzem regelmäßig bei den Anonymen Alkoholikern mitgearbeitet, ein Engagement, das ihm viel bedeutet. Weil er nun nicht mehr regelmäßig um acht kommen kann, mußte er die Mitarbeit aufgeben.
20 Uhr. Während die beiden Kollegen ihre Mäntel holen, sortiert Christina die Geldscheine in Kunststofftaschen. Die Tagesabrechnung rattert von der Bonrolle, und mit dem Taschenrechner sondert Christina den Umsatz der letzten eineinhalb Stunden aus: 260 Mark bei Lampen und Zubehör, 520 Mark bei Kleingeräten, keine müde Mark bei Großgeräten.
Die Unternehmen wollen erst im Frühjahr endgültig über Ladenschluß und zusätzliches Personal entscheiden. Die Kunden sollen mit den Füßen darüber abstimmen, ob sie längere Öffnungszeiten haben wollen und beratungsintensive Käufe auf den Abend verlegen. Bislang sieht es nicht so aus. Vielleicht ist die Gewohnheit stärker als die Bedürfnisse. Der lange Donnerstag hat sich ebenfalls erst nach Anlaufschwierigkeiten durchgesetzt.
Auch bei den Bonner Verkehrsbetrieben scheinen die alten Gewohnheiten festzusitzen. Der Acht-Uhr-vierzehn-Bus vom Hauptbahnhof zum Brüser Berg ist jetzt oft so überfüllt, daß Christina ihn fahren läßt und lieber zwanzig Minuten in der Kälte steht. Kurz nach halb sieben setzen die Stadtwerke nach wie vor die Ziehharmonikabusse ein, die dem Andrang nach Ladenschluß gut gewachsen waren. Sie sind jetzt immer halb leer. Kurz nach acht, wenn diese Busse nun gebraucht würden, fährt der normale Bus.
Heute ist es nicht so schlimm wie sonst, nach ein paar Haltestellen kann sich Christina auf eine Sitzbank plumpsen lassen. „Vorzeigeeffekt“ – auch hier. Zehn vor neun kommt die junge Frau zu Hause an. Die Neubauwohnung in der gigantischen Retortensiedlung am Brüser Berg scheint aus einem Werbeprospekt für Elektroartikel ausgeschnitten zu sein. Auf der Kommode im Wohnzimmer steht ein Luftfiltergerät, das den Raum mit zischenden Geräuschen erfüllt und jedesmal laut sirrt, wenn sich ein kleines Tier zwischen die Glühdrähte verirrt. Die anderen Möbel sind mit Leuchten und Lampen aller Art vollgestellt.
Im Flur dient ein großer Hometrainer als Kleiderständer. Christina hat sich vor kurzem mehrere Fitneßgeräte angeschafft. Denn wenn sie von der Spätschicht kommt, hat das Fitneßcenter schon zu. Für ihre Nachbarn hat um diese Uhrzeit längst der ganz private Teil des Tages begonnen. Auch Mutter und Geschwister, die früher zwischen sieben und acht öfter auf einen Besuch vorbeikamen, gehen um neun nicht mehr vor die Tür.
Von drei Jahresumsätzen, die auf den Konten der Bundesbürger schlummern, hat Einzelhandelspräsident Franzen gesprochen, als er den Verkäufern den späteren Ladenschluß schmackhaft machen wollte. „Wenn wir nur einen Teil dieses Schatzes heben könnten, ginge es uns allen besser“, hat er damals gesagt. Mit 1.850 Mark netto hat Christina Oraschewski ihre oberste Gehaltsstufe erreicht. Sie glaubt nicht, daß es ihr in Zukunft bessergehen wird, nur weil ein paar Bundesbürger nach 18.30 Uhr ihren Sparstrumpf aufschnüren.
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