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Sankt Disen, der Schutzpatron des Kurzschlusses Von Ralf Sotscheck

Plötzlich war es dunkel. Im nagelneuen Einkaufszentrum in der Dubliner Jervis Street hatte es einen Kurzschluß gegeben, und die vom Weihnachtswahn befallenen Shopper waren für vier Minuten lahmgelegt. Das heißt, nicht ganz. Als das Licht wieder anging, hatten es Dutzende von Menschen verdächtig eilig, zum Ausgang zu gelangen: Die kurzzeitige Dunkelheit hatte einen kollektiven Raubzug ausgelöst. In den vier Minuten verschwanden Waren im Wert von umgerechnet zehntausend Mark.

Die herbeigerufene Polizei konnte im Einkaufszentrum nichts mehr ausrichteten, dafür richtete sie in der Fußgängerzone ein Chaos an. Die fliegenden HändlerInnen nahmen irrtümlich an, daß ihre Verkaufslizenzen überprüft werden sollten und machten sich mit ihren Kinderwagen voller Schnickschnack aus dem Staub. Dabei fuhren sie alles über den Haufen, was im Weg war. Der alte Mann, der vor dem Einkaufszentrum Flugblätter verteilt hatte, sah aus wie ein Weihnachtsbaum: Zuerst war er von acht Kinderwagen überrollt worden, und als er sich vor dem neunten durch einen Sprung zur Seite in Sicherheit bringen wollte, landete er ausgerechnet in einem legalen Verkaufsstand mit Christbaumschmuck. Dabei verhedderte er sich im Lametta und riß die sorgsam aufgestapelte Pyramide aus roten und blauen Kugeln um. Seine Flugblätter waren ringsum verstreut. „Rettet Sankt Disen“, stand darauf.

Der heilige Disen war angeblich ein irischer Mönch, der sich – wie so viele seiner Kollegen – im Mittelalter auf den Weg nach Germanien gemacht hatte. Unterwegs kam er in Bradnich in der englischen Grafschaft Devon vorbei. Weil es dort weit und breit keine Kirche gab, baute er eigenhändig ein hölzernes Gotteshaus, bevor er weiterzog. So steht es jedenfalls in einer Biographie des Heiligen, die Pfarrer Charles Crossliegh aus Bradnich vor hundert Jahren verfaßt hat. Leider gab er für seine Informationen über Disen keine Quellen an. Den Dorfbewohnern war das freilich egal, sie stifteten ihrem Schutzpatron vor 20 Jahren eine Statue und gründeten eine Partnerschaft mit dem deutschen Ort Disibodenburg, der – wie sie glaubten – nach demselben irischen Mönch benannt sein mußte.

Umso größer das Entsetzen, als der Historiker Nicholas Orme von der Universität Exeter jetzt nachwies, daß die ganze Sache auf einem Mißverständnis beruht: Es gab niemals einen Disen, und die Dorfbewohner haben mehr als 150 Jahre lang am 8. September, Disens Geburtstag, einen Mythos gefeiert. Bis 1831, so fand Orme heraus, war die Kirche dem heiligen Denis gewidmet, doch dann stellte der damalige Pfarrer einen legasthenischen Kirchenschreiber ein. So wurde Denis zu Disen.

Der ist inzwischen aus der offiziellen Kirchengeschichte entfernt worden, doch die Leute in Bradnich scheren sich nicht darum. Man habe sich daran gewöhnt, daß die Kirche nach Disen benannt sei, meint Pfarrer David Robottom. So werde man künftig nicht nur den 8. September, sondern auch den 9. Oktober – den Tag des heiligen Denis – ausgiebig feiern. Robottom wird überrascht sein, wenn er hört, daß es in bestimmten Dubliner Kreisen Bestrebungen gibt, Disens Annullierung rückgängig zu machen: Man will ihn zum Schutzheiligen des Kurzschlusses und der Ladendiebe ernennen.

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