: Russifizierung und ihre Folgen
Narva war – zusammen mit den nahe gelegenen Sillamae und Kohtla-Järve – der Ort, der nach dem Zweiten Weltkrieg gezielt mit RussInnen besiedelt wurde. Arbeitskräftemangel führte in den siebziger Jahren zu einer neuen Ansiedlungswelle, besonders in der Hauptstadt Tallinn. Die RussInnen lebten vorwiegend in den für sie hochgezogenen eigenen Wohnghettos. Viele von ihnen hatten keinerlei Kontakte zu EstInnen.
Die Folge dieser Russifizierungspolitik Moskaus: Als Estland seine Unabhängigkeit erklärte, stellten die EstInnen nur knapp die Mehrheit in der Bevölkerung. Die russische Minderheit belief sich auf knapp 40 Prozent. Die Furcht, von den einstigen „Besatzern“ politisch ins Abseits gedrängt und um die Früchte des Selbständigkeitskampfes gebracht zu werden, führte zum Erlaß eines strengen Staatsbürgerschaftsgesetzes. Dieses Gesetz knüpft eine Einbürgerung an mehrere Kriterien – von einer gewissen Aufenthaltsdauer bis zur Beherrschung der estnischen Sprache.
In Litauen tauchte nach der Unabhängigkeit ein Minderheitenproblem nicht auf. Hier liegt der Anteil der russischen Bevölkerung unter zehn Prozent. Demgegenüber war der Streit um die Rechte der russischen Minderheit nach der Selbständigkeit in Lettland zunächst noch verbissener als im Nachbarland Estland. Geschuldet war dies einem etwa 50prozentigen Anteil von Nicht-LettInnen, die beispielsweise in der Hauptstadt Riga 38 Prozent der Einwohner stellen.
In Lettland war bereits 1989 ein strenges Sprachengesetz und 1994 ein nicht weniger rigoroses Staatsbürgerschaftsgesetz erlassen worden. Zentrale Forderung war auch hier die Kenntnis der lettischen Sprache. Erste Unruhen in der russischen Bevölkerung legten sich aber bald. Riga zeigte sich flexibler als Tallinn, unterstützt die Sprachkurse finanziell und hat sich ausländische ExpertInnen zur Lösung des Sprachenproblems ins Land geholt. Auch ist die wirtschaftliche Situation der in Lettland lebenden RussInnen nicht so schlecht wie die ihrer Landsleute in Estland. Dort haben sich die russischen Bevölkerungszentren teilweise zu ökonomischen Krisengebieten entwickelt. rw
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