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Auspacken, einpacken

Prinzip Gewinnmaximierung oder der Niedergang eines „pulsierenden Einkaufsboulevards“: Die Bickhardt'sche Buchhandlung in der Neuköllner Karl-Marx-Straße muß schließen  ■ Von Tomas Fitzel

„Fahren Sie nicht nach Berlin!“ steht auf einer alten Reklametafel der Bickhardt'schen Buchhandlung. Als sie 1879 eröffnete, hieß Neukölln noch Rixdorf und die Karl-Marx- Bergstraße. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg übernahm Hans Herrfarth das Geschäft und zog Ende der zwanziger Jahre zwei Ecken weiter in die heutigen Ladenräume. Den Gründernamen behielt er bei.

Wenn die einen heute zur Bescherung unterm Weihnachtsbaum das eine oder andere Buch aus dem Geschenkpapier wickeln, packt man in der Bickhardt'schen Buchhandlung in Neukölln ein – für immer. Der Grund für die Schließung ist so banal wie trist: Die Hausbesitzer wollen aus der Immobilie mehr herausquetschen, als eine Buchhandlung je erwirtschaften könnte. Kein Einzelfall: An der Karl-Marx-Straße, dem „pulsierenden“ Geschäftszentrum Neuköllns, gibt es fast nur noch Billigdiscounter, die schon bei ihrer Eröffnung den totalen Schlußverkauf verkünden. „Hertie soll ja auch dichtmachen“, weiß die Verkäuferin im Schokoladengeschäft, und sie weiß alles.

Die Bickhardt'sche Buchhandlung war ein Überbleibsel aus einer vergangenen Zeit, das ein wenig verloren in die heutige hineinragte. Antiquariat und Sortimentsbuchhandlung waren früher die übliche Kombination, als Buchhändler sich gerade in kluger Lagerhaltung auszeichnen mußten. Und dadurch auch jeweils ein ganz eigenes Profil erhielten. Heute schicken die Grossisten, die sogenannten Barsortimenter, in ihren „Bücherwannen“ schon eine vorsortierte Auswahl.

Stieg man die drei Treppchen an einem alten Schaukasten zur Ladentür hoch, spürte man sofort, daß man einen Traditionsbetrieb betrat. Streng wurde man von einer älteren Angestellten gemustert und nach seinem Begehr befragt. Nichts also für schüchterne Flaneure und andere Tagträumer. Hier wird man bedient! So hatte Ingeborg Jäger es schließlich gelernt, als Tresengeschäft, 1945 in diesem eisigen Winter, als man kein Brennholz, ja noch nicht einmal Bücher besaß, um damit den Kanonenofen in der Mitte des Ladens zu befeuern. Von der Pike auf – das ist ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Ihre Augen sind überall, und mit einem Satz ist sie an der Tür, um aufmerksam einer Frau mit Kinderwagen zu öffnen.

Bei Hans Herrfarth, dem Großvater der derzeitigen Inhaberin, hatte Ingeborg Jäger ihre Ausbildung absolviert. Als dessen Sohn das Geschäft übernahm, entwich sie in die Filiale in der Sonnenallee. „War wie 'ne Strafversetzung.“ Aber dafür gelang diesem manch antiquarischer Coup, wie der Erwerb einiger Kafka-Briefe. Doch das ist lang her, und inzwischen arbeitet sie für die Enkelin, Claudia Severin, wohlwissend, daß im Laden sie die Respektsperson ist, „denn hier übertrifft mich keiner, junger Mann!“ Ingeborg Jäger kann in Rente gehen, das halbe Dutzend weiterer Verkäuferinnen in die Arbeitslosigkeit.

Es kommt auch heute noch mancher Kunde, der von seinen Eltern oder Großeltern hier sein erstes Bilder- oder Schulbuch gekauft bekam. Diesen Kunden blieb man treu. Freilich, eine Großstadtbuchhandlung wurde man nicht. Neukölln ist in gewisser Weise immer Vorstadt geblieben. Einen Joseph Roth fand man hier zum Beispiel noch nicht einmal zu seinem 100. Geburtstag. Auch türkische oder andere fremdsprachige Literatur hätte man hier vergeblich gesucht, obwohl die Nachbarschaft mittlerweile zum großen Teil nicht aus Deutschland stammt. Nachdem Westberlin seinen Inselstatus verloren hatte, zogen die Verlagsvertretungen wieder zu ihren Stammhäusern in Westdeutschland zurück, was zur Folge hatte, daß man nun zu schlechteren Konditionen bei den Barsortimentern bestellen mußte. Und ein paar Prozent können viel ausmachen. Die Portemonnaies der Kunden wurden auch nicht dicker. Eher im Gegenteil.

Heute werden die Lichter gelöscht. Für eine kurze Weile wird man noch die steile Holzstiege zum Antiquariat hinaufsteigen können, um dort Strandgut aus drei Generationen von Buchhändlern wohl zu einem billigen Preis bergen zu können. Danach heißt es aber endgültig: Fahren Sie nach Berlin!“

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